Hotel van Gogh
ungewollte Last abnimmt. Aber niemand antwortet. Es dämmert ihr, dass es ihr nicht erspart bleiben wird, seinetwegen noch einmal nach Paris zu fliegen und erneut einen oder sogar mehrere Tage zu opfern, je nachdem, was an Verpflichtungen auf sie zukommt. Eigentlich wäre es mit dem geringsten Zeitaufwand verbunden, wenn sie sofort in die Wohnung fahren und sich einen Einblick verschafften würde. Der heutige Tag ist auf alle Fälle verloren, wer weiß, wann Peter in Hamburg sein wird. Wenn sie morgen früh den ersten Flug nach Hamburg nimmt und dann mit dem Hubschrauber weiter nach Sylt, käme sie vielleicht noch vor ihm dort an. Sie wählt seine Handynummer.
»Peter, ich überlege, eine Nacht in Paris zu bleiben, um dort jemandem alles Weitere zu übertragen. Es muss doch jemanden in seinem Leben gegeben haben!«
»Mach das, Sabine, heute läuft sowieso nichts mehr. Ich stecke immer noch in diesem Wahnsinnsstau, seit einer Stunde hat sich nichts bewegt. Gut, dass du nicht hier bist, bei deiner Ungeduld. Also dann bis morgen, Brunch am Meer! Und viel Spaß in Paris, wenn ich das jetzt sagen kann.«
Sie atmet erleichtert auf. Dieses Gefühl aus Neugierde und Verpflichtung, davon hätte sie sich auf Sylt nicht so ohne weiteres befreit. Sie ist mittlerweile in das Schicksal ihres Onkels tiefer verstrickt, als sie sich einzugestehen bereit ist.
Auf seinem Kofferanhänger findet sie seine Adresse. Der Taxifahrer kennt die Gegend, beste Lage in St. Germain-des-Prés, in der Nähe der Seine. Sie hat wenig Lust, sich mit ihm zu unterhalten, all die ungelösten Fragen, die ihr durch den Kopf schwirren. Aber der Fahrer, der gerade am Charles-de-Gaulle-Flughafen drei Stunden auf seinen nächsten Kunden warten musste, ist froh, endlich jemanden zum Reden zu haben. Auf seine Frage, wo sie herkomme, antwortet sie fast trotzig:
»Auvers-sur-Oise.«
Sie bemerkt, wie der Fahrer sie im Rückspiegel mustert.
»Auvers-sur-Oise, da wurde heute ein Haufen Terroristen auf einen Schlag geschnappt. Waren Sie deswegen dort?«
»Ich hatte im Van-Gogh-Haus zu tun.«
Erneut der durchdringende Blick des Taxifahrers, als reiche ihm die Antwort nicht aus, als müsse mehr dahinterstecken.
»Man spricht über nichts anderes als diese Aktion der Polizei. Alles hervorragend geplant, die Terroristen waren völlig überrascht. Wenn man sich das vorstellt, nicht nur eine kleine Zelle von fünf oder sieben Personen, sondern ein ganzes Dorf! Sie hatten Anschläge auf iranische Ziele in Frankreich geplant. Dass man von diesen Mudschahedins vorher nie gehört hat! Ihre Anführerin ist eine Frau, viele der Gefangenen sind Frauen. Ich war schon immer der Meinung, dass das mit den Terroristen erst richtig gefährlich wird, wenn da Frauen mitmachen, verschleiert in ihren langen Roben und Kopftüchern. Niemand weiß, was sich unter diesen Zelten verbirgt. Man hört ja immer wieder, dass islamistische Attentäter nach ihren Anschlägen in Frauenkleidung entkommen oder in diesen Gewändern als lebende Bomben rumlaufen. Man kann gar nicht hart genug eingreifen, wenn man unsere Zivilisation retten will. Und die steht auf dem Spiel!«
»Die Aktion lief am frühen Morgen ab. Als ich in Auvers ankam, war alles vorbei, die Polizei zog bereits ab.«
Vor ihr taucht der Arc de Triomphe auf. Als sie die Champs-Élysées entlangfahren, kommt es ihr vor, als erwache sie aus einem Traum. Paris statt Sylt, unvorstellbar, wie das geschehen ist.
Das Gebäude in der Rue Bonaparte liegt gegenüber dem Eingang zum Innenhof der École des Beaux-Arts. Sie klingelt bei seinem Apartment, blickt erwartungsvoll am Haus hoch. Aber auch nach mehrfachem Klingeln antwortet niemand, keine Ehefrau, keine Freundin. Schließlich gelingt es ihr, mit einem der Schlüssel die schwere Holzeingangstür zu öffnen.
Ihre Erregung steigert sich, als sie vor der Wohnungstür angekommen ist. Ein eigentümliches Gefühl, so einfach diese für sie fremde Wohnung zu betreten. Keine Alarmanlage, als sie die Tür aufschließt, bleibt alles ruhig. Ein großzügiges Apartment, hell und modern möbliert, angenehm kühl, an den Wänden moderne Kunst mit kräftigen Farben. Auf dem Empfangstisch in der Diele neben einem Strauß frischer roter Rosen die ungeöffnete Post, wohl von einer Hausgehilfin dort für ihn hingelegt. Sollten die Rosen für Ziba sein? Nichts deutet auf einen Abschied für immer, ganz im Gegenteil, als werde er jeden Augenblick zurückerwartet.
Vor wenigen Stunden stand Sabine vor
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