Hotel van Gogh
Selbstmordabsicht hierhergekommen ist, und davon muss man ausgehen, schließlich hat er die Waffe mitgebracht, dann muss er auch eine letzte Nachricht hinterlassen haben. Möglicherweise enthält sein Notizbuch einen entsprechenden Eintrag. Bei der nächstbesten Möglichkeit hält sie erneut an. Sie nimmt das Buch aus der Aktentasche, der erste Eintrag darin vom 1. Januar 2003. Jedes Jahr ein neues Tagebuch, wie es sich für einen ordentlichen Schriftsteller geziemt, denkt sie. Die zehn Jahre Paris chronologisch in einem Regal in seinem Arbeitszimmer aufgereiht. Sie schlägt den letzten Eintrag auf:
16. Juni, Auvers-sur-Oise
Ziba, der Augenblick, auf den wir so lange gewartet haben, ist gekommen. Endlich wirst du dein Versprechen einlösen. Unser langer Weg vom Traum zur Wirklichkeit. Das gemeinsame Leben vor uns. Noch diese Nacht und dann für immer.
Eine Frau, die er in der Nacht vor seinem Selbstmord erwartete, und die dann doch nicht gekommen ist? Sabine blättert eine Seite zurück und findet einen früheren Eintrag vom selben Tag:
16. Juni, Auvers-sur-Oise
Ich bin nicht Ihr typischer Erstlingsautor, ich brauche einen mutigen Verleger. Das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Dieses Mal ist es sowieso anders nach der Einführung durch Michael Baumann, der mit ihm befreundet ist. Dr. Zapf vom Zwei-Falken-Verlag in Frankfurt war mir bei unserem Treffen sofort sympathisch. Endlich jemand, der mein Manuskript tatsächlich gelesen hat. Nun liegt ihm die Überarbeitung vor. Seine Antwort erwartet mich in Paris. Aus irgendeinem Grund, manchmal weiß man so etwas eben, bin ich überzeugt, dass er das Manuskript annehmen wird.
Das Ende meiner Sisyphos-Zeit, nach zehn Jahre langem Marsch durch das Tal der Niederlagen und Enttäuschungen.
Und wenn es anstelle des Briefes von Dr. Zapf mit dem Vertrag wieder nur die kurze ablehnende unpersönliche Zeile eines Assistenten sein sollte? Ich weiß nicht, was dann. An einem bestimmten Punkt muss man aufgeben. Das trifft auf jeden noch so Besessenen zu, selbst einen Vincent van Gogh.
Wer ist Ziba? Sabine ist überrascht, dass Dechaize nichts von einer Frau gesagt hat. Oder handelt es sich bei Ziba um eine seiner Romanfiguren? Bei Schriftstellern kann durchaus die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen, wenn das Leben ihrer Protagonisten und ihr eigenes zeitgleich nebeneinander verlaufen. Niemand in dem Gasthaus, in dem er übernachtete, hatte etwas von einer Frau erwähnt. Es gab auch kein Gepäck einer Frau dort. Ziba gehört ins Reich seiner schriftstellerischen Phantasie, Arthur Heller war allein in Auvers-sur-Oise gewesen.
Damit liegt der einzig plausible Grund für seinen Kurzschluss bei dem Verleger, der dann doch das Manuskript abgelehnt hat. Seine Hausgehilfin oder Sekretärin muss ihm aus Paris mitgeteilt haben, dass ein Umschlag aus Deutschland mit dem Manuskript eingetroffen sei. Die Absage war zu viel für ihren Onkel. In seiner Tagebuchnotiz spielt er auf Sisyphos an, es handelte sich offensichtlich nicht um die erste Absage.
In seiner Verzweiflung ist er der wahnwitzigen Idee verfallen, durch den Selbstmord im Sterbezimmer van Goghs auf sich aufmerksam zu machen, und auf diese Weise den Grundstein für wenigstens einen postumen Erfolg zu legen.
Unvermittelt klingelt ihr Handy. Ob Monsieur Dechaize ihr nun mitteilen wird, was er in Gegenwart des Polizisten nicht ansprechen wollte? Aber sie hatte ihm doch ihre Handynummer gar nicht gegeben! Jetzt spinnst du auch schon, schüttelt sie über sich den Kopf.
»Hallo Sabine, ich stecke hinter Kassel im Stau! Wenn es so weitergeht, schaffe ich es bis zur Ankunft deiner Maschine nicht nach Hamburg. Tut mir leid, aber du wirst warten müssen. Wie läuft es sonst bei Dir?«
Peter auf der Fahrt in den gemeinsamen Urlaub. Ihr eigenes Leben kommt ihr mit einem Mal in weite Ferne gerückt vor.
»Schon alles erledigt, eine reine Formsache. Ich bin beim Flughafen, muss den Mietwagen noch abgeben und die Sache wäre ausgestanden.«
Unschlüssig steht sie mit Arthur Hellers Koffer und der Aktentasche am Flugschalter. Als Handgepäck kann sie dies neben ihrer eigenen Reisetasche nicht auch noch mitnehmen. Warum hat sie sein Gepäck nicht überhaupt bei der Polizei in Auvers gelassen? Sein Auto, wenn es eines gab, muss dort auch noch stehen.
Es bleibt ihr noch über eine Stunde bis zum Abflug. Sie entschließt sich, vor dem Einchecken in seiner Wohnung anzurufen, in der Hoffnung, dass ihr dort jemand diese
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