Hotel
dauern würde. Die Freiheit war ihm niemals kostbarer erschienen. Eine halbe Welt schien ihn von dem so nahen Expressway zu trennen.
Jetzt endlich begriff Keycase, was die Vorzeichen der letzten anderthalb Tage wirklich bedeuteten. Sie hatten ihm Befreiung dargeboten, die Möglichkeit zu einem neuen, anständigen Leben, ein Entrinnen in das Morgen. Hätte er es doch nur eher begriffen!
Statt dessen hatte er die Zeichen falsch gelesen. Arrogant und selbstgefällig hatte er seiner eigenen Unbesiegbarkeit zugeschrieben, was er doch nur der Güte des Schicksals zu verdanken hatte. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Und das war nun das Ergebnis. Nun kam jede Reue zu spät.
Oder nicht? War es jemals zu spät – für ein wenig Hoffnung? Keycase schloß die Augen.
Er gab sich das Versprechen – und er wußte, daß er es halten würde, falls man ihm die Chance dazu gab –, daß er nie wieder – in seinem ganzen Leben nicht – auch nur eine einzige unehrliche Handlung begehen wollte, wenn er diesmal mit heiler Haut davonkam.
Keycase machte die Augen auf. Der Polizist war zu einem anderen Wagen gegangen, dessen Fahrer angehalten hatte, um sich nach dem Weg zu erkundigen.
Mit einer Geschwindigkeit, die er sich niemals zugetraut hätte, zog Keycase das Reserverad auf, schraubte die Radmuttern fest, drehte den Wagenheber herunter und schleuderte ihn in den Kofferraum. Sogar jetzt zog er, wie es sich für einen guten Mechaniker gehörte, die Muttern noch einmal fest an, als das Rad auf dem Boden stand. Er hatte den Kofferraum bereits wieder umgepackt, als der Polizist zurückkehrte.
Clancy nickte billigend; seinen Verdacht hatte er längst vergessen. »Fertig?«
Keycase knallte den Kofferraumdeckel zu. Zum erstenmal fiel Schutzmann Clancy das Nummernschild von Michigan ins Auge.
Michigan. Grün auf Weiß. In der Tiefe von Clancys Gedächtnis rührte sich etwas.
War es heute gewesen, gestern, vorgestern …? Beim Appell hatte sein Vorgesetzter die letzten offiziellen Bekanntmachungen laut vorgelesen … Irgend etwas über Grün und Weiß war auch darin vorgekommen …
Clancy wünschte, er könnte sich daran erinnern. Es gab immer so viele Bekanntmachungen – über steckbrieflich gesuchte Kriminelle, über vermißt gemeldete Personen, gestohlene Wagen, Einbrüche. Jeden Tag kritzelten die eifrigen, klugen, jungen Bürschchen aus der Truppe in ihr Notizbuch, prägten sich die Informationen ein, lernten sie auswendig. Clancy versuchte es. Er versuchte es jedesmal. Da der Leutnant aber sehr schnell sprach und Clancy sehr langsam schrieb, geriet er unvermeidlich ins Hintertreffen. Grün und Weiß. Er wünschte, er könnte sich erinnern.
Er zeigte auf das Nummernschild. »Michigan, eh?«
Keycase nickte und wartete dumpf. Die immer neuen Schicksalsschläge hatten ihn allmählich abgestumpft.
»Wasserwunderland«, las Clancy laut von dem Schild ab. »Wie ich höre, kann man bei euch oben prima angeln.«
»Ja … das stimmt.«
»Würde gern mal da rauffahren. Bin selbst ‘n begeisterter Angler.«
Von hinten ertönte ungeduldiges Hupen. Clancy hielt die Wagentür auf. Es schien ihm plötzlich wieder einzufallen, daß er Polizeibeamter war. »Machen Sie die Fahrbahn frei.« Grün und Weiß. Er wurde den Gedanken daran nicht los.
Der Motor sprang an. Keycase fuhr an und gab Gas. Clancy sah ihm nach. Vorsichtig, weder zu langsam noch zu schnell, steuerte Keycase die Auffahrt zum Expressway an. Sein Entschluß, ein neues Leben zu beginnen, stand unerschütterlich fest.
Grün und Weiß. Clancy schüttelte den Kopf und kehrte auf seinen Posten an der Kreuzung zurück. Nicht umsonst wurde er der dümmste Schupo in der ganzen Polizei genannt.
17
Die blau-weiße Polizeiambulanz mit dem rotierenden Blaulicht schwenkte von der Tulane Avenue in die Einfahrt zur Erste-Hilfe-Station des Charity-Hospitals ein. Sie hielt. Die Türen wurden aufgerissen. Die Bahre, auf der Dodo lag, wurde herausgehoben und von Krankenhelfern mit geübter Schnelligkeit durch ein Portal gerollt. Es trug die Aufschrift: »Aufnahme – ambulante Patienten – Weiß.«
Curtis O’Keefe folgte im Laufschritt, um nicht den Anschluß zu verlieren.
Ein Helfer an der Spitze rief: »Ein dringender Fall! Platz machen, bitte!« Gruppen plaudernder Menschen, die in der Vorhalle auf Abfertigung warteten, traten zurück, um die kleine Prozession vorbeizulassen. Augen folgten ihr neugierig. Dodos bleiches, wächsernes Gesicht zog die meisten
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