House of God
ihnen zu sagen, daß die unvollkommene Gesundheit die vollkommene Gesundheit war und ist und daß wir gegen die meisten Sachen, die mit ihrem Körper nicht stimmen, nicht sehr viel tun können. Vielleicht stellen wir eine Diagnose – tolle Sache. Aber wir heilen so gut wie nie.«
»Da bin ich mir eben nicht so sicher.«
»Was wollen Sie damit sagen? Haben Sie schon irgend jemanden geheilt? In den sechs Monaten?«
»Eine Remission.«
»Wahnsinn. Wir heilen uns selbst, und damit hat es sich. Gehen wir. Wir werden uns in der Menge verlieren, Basch, darum Frooohe Weihnachten und passen Sie immer gut auf, wo Sie Ihre Finger reinstecken.«
Wieder einmal verwirrt und mit dem Gefühl, als habe er wie gewöhnlich mein Gehirn durchgeschüttelt, und mit dem Gedanken, daß er wahrscheinlich recht hatte, blieb ich noch einen Augenblick stehen und beobachtete, wie er auf die Menge zuging. Die Patienten kreischten vor Freude, als sie den Dicken sahen und umringten ihn. Viele von ihnen kamen seit eineinhalb Jahren jede Woche zu ihm, und fast alle kannten sich untereinander. Sie waren eine große glückliche Familie, und dieser Arzt war ihr Oberhaupt. Man lächelte, überreichte Geschenke, und Dickie setzte sich mitten in den Warteraum und amüsierte sich. Gelegentlich nahm er ein Kind auf die Knie und fragte, was es sich zu Weihnachten wünschte. Ich war gerührt. Hier sah ich, was Medizin sein konnte: Menschlichkeit für Menschen. Wie in unseren zerschlagenen Träumen. Traurig ging ich in mein Dienstzimmer, wie ein Kind, das nicht zum Spielen bei dem Dicken eingeladen worden war.
Und doch hatte ich, vom Dicken entsprechend präpariert, überraschenderweise plötzlich Spaß an meiner Ambulanz. Der Gedanke, daß mein Wunsch zu heilen die einzig echte Krankheit meiner Patienten sei, entspannte mich, und ich lehnte mich zurück und ließ mich von ihnen als Menschen in ihr Leben holen. Welch ein Unterschied! Als ich die schmerzenden Knie meiner arthritischen, Basketball spielenden schwarzen Patientin ignorierte und sie statt dessen nach ihren Kindern fragte, öffnete sie sich, schwatzte fröhlich und holte ihre Kinder herein, damit sie mich begrüßten. Als sie ging, vergaß sie zum ersten Mal, ein Pamphlet der Zeugen Jehowas dazulassen. Viele meiner anderen Patienten brachten mir Geschenke. Meine LAD in GAZ mit den angeklebten Augenlidern brachte mir ihre Nichte, eine umwerfende
Sabra
mit braungebranntem Gesicht und Schultern wie ein Footballspieler und dem Lächeln einer saftigen Jaffa-Orange. Meine künstliche Brust brachte eine Flasche Whiskey und mein portugiesischer künstlicher Fuß eine Flasche Wein. Die Geschenke waren der Dank dafür, daß ich ihnen »geholfen hatte«. Das einzige, womit ich ihnen jedoch tatsächlich geholfen hatte, war, sie nicht irgendwohin abgeschoben zu haben. Durch die ärztliche Drehtür-Versorgung, bei der jeder Arzt des Planeten bestrebt ist, zu frisieren und abzuschieben, waren diese Menschen Experten geworden, wenn es darum ging, ein statisches Zentrum zu finden, an dem sie sich verankern konnten. Einen Dicken konnten sie auf eine Meile riechen. Diesen Leuten ging es nicht um Krankheit oder Heilung. Sie wollten, was jeder will, die Hand in ihrer Hand, das Gefühl, daß ihr Arzt sich um sie kümmert.
Ich kümmerte mich. Ich begann meine Patienten mit den Augen des Dicken zu sehen.
Auch in der Notaufnahme verflog der Rausch dieses menschlichen Empfindens nicht. Ich fühlte mich gut, war stolz auf meine Fähigkeiten, erregt. Ich fand es nicht schlimm, wenn ich zur Arbeit gehen mußte, und außerhalb des
House
konnte ich es ertragen, daran zu denken, was innerhalb des
House
war. In der Notaufnahme saß ich wie auf einer Bank im Louvre: Eine menschliche Tapisserie entfaltete sich vor meinen Augen. Genau wie Paris war die Notaufnahme ein Ort unbegrenzter Zeit: Ich konnte fortgehen, und sie würde ohne mich weiterbestehen, bis ich wiederkam. Die unendliche, demütige Ewigkeit der Krankheit. Mit dem Kunstgriff des Abschiebens schlüpfte ich in die Rolle des Arztes, die mein Vater in seinen Briefen entwarf. Ich war in der Lage, mit allem fertig zu werden, was sich da abspielte, wo die Fahrt des Krankenwagens endete, und was durch die Tür auf mich zugerollt kam.
An einem Samstagnachmittag vor Weihnachten, in der Ruhe vor dem Sturm der Samstagnacht, saßen Gath und ich in der Stationszentrale. Der irre Abe war seit zwei Nächten verschwunden, und alle waren ein wenig verstimmt wegen seiner
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