House of Night 7. Verbrannt
Er hatte schon lange Umgang mit den Schatten und all dem, was in der Nacht heimisch war. Der Rabenspötter schöpfte aus seinem tiefsten Inneren und sog die Energie in sich ein wie die Kälte einer Mittwinternacht. Dann warf er die Arme in die Luft und breitete zugleich seine Schwingen aus.
Beide gehorchten seinem Befehl.
»Ja!« Bei seinem Triumphschrei erzitterten und zuckten die Dinge in den Schatten ekstatisch.
Er war wieder gesund! Der Flügel war geheilt!
Rephaim sprang auf die Füße. Mit den ausgebreiteten dunklen Schwingen sah er aus wie die plötzlich zum Leben erwachte herrliche Skulptur eines niederen Gottes. Bebend vor angestauter Energie führte der Rabenspötter seine Beschwörung fort. Die Luft glühte scharlachrot, als wäre er von einem phosphoreszierenden Nebel aus Blut umgeben. Gesättigt von der geborgten Finsternis hallte Rephaims Stimme durch die Nacht. »Im Namen der Macht meines unsterblichen Vaters Kalona, der mir in Blut und Geist seine Kraft verlieh, befehle ich dem Erbe, über das ich in seinem Namen gebiete, mich zu der Roten zu führen – zu ihr, die von meinem Blut getrunken hat, mit der ich durch Prägung verbunden bin und mit der ich eine Lebensschuld getauscht habe. Bring mich zu Stevie Rae! Ich befehle es dir!«
Einen Moment lang blieb der Nebel unbeweglich in der Luft hängen, dann hob er sich, und wie ein Band aus scharlachroter Seide breitete sich in der Dunkelheit vor ihm ein dünner, glitzernder Pfad aus. Flink und sicher schwang sich Rephaim in den Himmel auf und folgte mit steten Flügelschlägen der lockenden Finsternis.
Er fand sie nicht weit vom Museum entfernt in einem Park, der in Rauch und Tod gehüllt war. Während er lautlos landete, fragte sich Rephaim, wie die Menschen in den umliegenden Häusern so blind gegenüber dem sein konnten, was nur einen Schritt vor dem trügerisch sicheren Bollwerk ihrer Haustüren entfesselt worden war.
Im Herzen des Parks ballte sich der schwarze Rauch am dichtesten zusammen. Rephaim konnte gerade noch die obersten Zweige einer massiven alten Eiche ausmachen, unter der das Chaos tobte. Er näherte sich vorsichtig, die Flügel noch ausgebreitet, denn ihr subtiler Ausgleich der Balance erlaubte ihm auch am Boden, sich schnell und geräuschlos zu bewegen.
Der Jungvampyr nahm keine Notiz von ihm. Aber Rephaim war klar, dass der Junge es wohl nicht einmal bemerkt hätte, wenn ein Heer um ihn aufmarschiert wäre. Mit all seinen Sinnen versuchte er, mit einem langen, bedrohlich aussehenden Messer, etwas zu durchstechen, was ein Kreis aus Finsternis zu sein schien, der sich zu einem soliden Wall verfestigt hatte – oder zumindest musste es so auf den Jungvampyr wirken.
Rephaim aber war kein Jungvampyr. Er wusste besser Bescheid.
Er schlich um den Jungen herum und begab sich ungesehen an den nördlichsten Punkt des Kreises. Er war nicht sicher, was ihn hierher zog: sein Instinkt oder Stevie Raes Einfluss. – Irgendwie ahnte er, dass beides, womöglich, miteinander verschmolz.
Einen Augenblick hielt er inne, dann faltete er mit einer einzigen widerwilligen Bewegung die Flügel auf dem Rücken und hob die Hand. Flüsternd sprach er zu dem scharlachroten Nebel, der ihm noch immer zu Diensten war. »Verhülle mich und ermögliche mir, die Barriere zu passieren.« Als sich wirbelnde Energie in seiner Hand sammelte, schloss er die Faust darum und stäubte den Nebel mit einer Bewegung aus dem Handgelenk über seinen ganzen Körper.
Der Schmerz kam nicht unerwartet. Selbst jene Aspekte unsterblicher Macht, die ihm gehorchten, taten dies niemals, ohne dafür einen Preis zu fordern. Oft bestand der Preis in Schmerz. Diesmal fraß er sich durch seinen frisch verheilten Körper wie Lava, doch Rephaim begrüßte ihn, denn dies bedeutete, dass sein Befehl erfüllt worden war.
Es war unmöglich, sich darauf vorzubereiten, was er in dem Kreis vorfinden mochte. Rephaim sammelte lediglich all seine Konzentration und schritt vorwärts, gehüllt in die ererbten Kräfte aus seines Vaters Blut. Und der Wall aus Finsternis öffnete sich für ihn.
Im Kreis schlugen sofort der Geruch von Stevie Raes Blut und die Ausdünstungen von Tod und Verwesung über ihm zusammen.
»Hör auf! Ich kann nich mehr! Töte mich, wenn du willst, aber bitte berühr mich nich mehr!«
Er sah sie nicht, aber aus ihrem Ton sprach nackte Verzweiflung. Eilig sammelte Rephaim etwas von dem an ihm haftenden scharlachroten Nebel ein. »Geh zu ihr – kräftige sie«,
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