Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten (German Edition)
haben.« Und er wischte sich wieder an den Augen herum.
»Potz armes gebrochenes Herz! Warum läßt du es vor uns hier überlaufen? Was können wir dafür?«
»Nein, ihr allerdings nicht. Euch beschuldige ich auch nicht, meine Herren. Ich habe mich selbst heruntergebracht – ja, ich selbst. Es geschieht mir recht, wenn ich leide, ganz recht; ich grolle niemand.«
»Heruntergebracht von wo? Von wo bist du heruntergebracht worden?«
»Ach, ihr würdet mir's nicht glauben; die Welt glaubt nie. Laßt mich! Es kann euch einerlei sein. Das Geheimnis meiner Geburt –« »Das Geheimnis deiner Geburt? Willst du behaupten ...«
»Meine Herren«, sagte der junge Mann feierlich, »ich will es euch enthüllen, denn ich fühle, daß ich euch vertrauen darf. Von Rechts wegen bin ich ein Herzog!«
Jims Augen starrten vor Erstaunen, und ich glaube, die meinigen auch. Der Kahlkopf aber sagte: »Unmöglich! Ist das dein Ernst?«
»Ja. Mein Urgroßvater, der älteste Sohn des Herzogs von Somerset, flüchtete in dieses Land gegen Ende des letzten Jahrhunderts, um die reine Luft der Freiheit zu atmen. Er heiratete hier und starb und hinterließ einen Sohn; sein eigener Vater starb fast zur selben Zeit. Dessen zweiter Sohn bemächtigte sich des Titels und der Güter; der wirkliche Erbprinz wurde ignoriert und dessen Nachkomme in gerader Linie bin ich – ich bin der rechtmäßige Herzog von Somerset; und nun bin ich verstoßen, meiner hohen Stellung beraubt, von Menschen gehetzt, zerlumpt, elend, und herabgewürdigt zu einer Gesellschaft Entlaufener auf einem Floß!«
Jim bedauerte ihn sehr, ich auch. Wir versuchten ihn zu trösten, aber er sagte, es wäre nutzlos, denn er sei untröstlich; doch wenn wir ihn als Herzog anerkennen wollten, so wäre das für ihn eine kleine Entschädigung. Wir wollten ihm den Gefallen gern tun, wenn er uns nur sagte wie. Er meinte, wir sollten uns verbeugen, wenn wir ihn anredeten, und zwar mit den Worten Ihro Gnaden oder Hoheit oder auch Mylord und er hätte auch nichts dagegen, wenn wir ihn einfach Somerset nennen, denn das wäre eigentlich mehr ein Titel als ein Name; und einer von uns solle ihn bei Tische bedienen und ihm überhaupt kleine Dienstleistungen erweisen.
Nun, das hatte ja nichts auf sich, und wir waren willens. Während der Mahlzeit bediente Jim ihn mit: ›Ihro Gnaden wünschen dies oder das?‹ und so weiter, und man konnte sehen, daß es ihm gefiel.
Aber der Alte wurde allmählich schweigsam, hatte wenig zu sagen und sah aus, als ob ihm dieser Herzogkultus nicht recht gefiele. Ihn schien innerlich etwas zu wurmen. Am Nachmittag fing er folgendermaßen an:
»Hör mal, Sommerfett«, sagte er, »du tust mir verdammt leid, aber du bist nicht der einzige, der so etwas durchgemacht hat.«
»Nicht?«
»Nein, du bist nicht die einzige Person, die ungerechter Weise aus ihrer Höhe herabgerissen worden ist.«
»Ach!«
»Nein, du bist nicht die einzige Person, die ein Geburtsgeheimnis hat.« – Und der Alte fing zu weinen an.
»Halt, was meinst du damit?«
»Sommerfett, darf ich mich dir vertrauen?« sagte der Alte noch schluchzend.
»Bis zum bittren Tode!« Der Herzog ergriff bei diesen Worten des Alten Hand, drückte sie und sprach: »Vertrau mir das Geheimnis deines Daseins, wie ich dir das meinige vertraute. Rede!«
»Sommerfett – ich bin der Dauphin!«
Jim und ich starrten vor Erstaunen. Dann rief der Herzog: »Du bist was?«
»Ja, mein Freund, es ist nur zu wahr – deine Augen schauen in diesem Moment auf den armen verschollenen Dauphin: Louis XVII., Sohn Ludwigs XVI. und Marie Antoinettens.«
»Du? In deinem Alter? Nein! Du meinst wohl, du bist Karl der Große; du mußt doch mindestens sechs- bis siebenhundert Jahre alt sein.«
»Kummer hat's getan, Sommerfett, Kummer hat's getan. Sorgen haben mir das Haupthaar vor der Zeit geraubt und den Bart gebleicht. Ja, meine Herren, ihr seht vor euch, in abgetragenem Zeug und in Elend versunken, den wandernden, verbannten, niedergebeugten und leidenden rechtmäßigen König von Frankreich!«
Er weinte und gebärdete sich so, daß Jim und ich gar nicht wußten, was tun, so leid tat er uns, und zugleich waren wir so froh und stolz, ihn bei uns zu haben. Wir taten denn auch für ihn, wie erst für den Herzog, alles was wir konnten. Aber er sagte, es sei umsonst, nichts als der Tod könne ihn glücklich machen. Und doch meinte er, sei das Leben etwas erträglicher, wenn Menschen ihn nach seinem Rechte behandelten, ein Knie
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