Hüftkreisen mit Nancy
Schulter. Es war nichts Großes, einfach nur so ein angeschickertes Wohlfühlen, aber es reichte, um zu wissen, dass meine Gefühle Verrat begingen. Ich fühlte mich nämlich besser als nur wohl. Zu Hause hatte Dorit sich mit Mascha hingelegt. Baby Mascha hatte Koliken. Das Übliche. «Sei schön leise, wenn du kommst. Ich hab dir das Bettzeug ins Wohnzimmer gelegt!» Und ich ging lachend mit Nergez durch den Frostund dachte darüber nach, wie es sich anfühlen würde, mit ihr mal so richtig eine IKE A-Kommode zusammenzuschrauben.
Es hatte keine Folgen gehabt, wir hatten uns brav verabschiedet, eine Sekunde gezögert, gegrinst und dann doch aufs Küsschen verzichtet. Wir waren betrunken gewesen, und ich hatte dem zunächst keine Bedeutung beigemessen, doch irgendetwas war passiert. Die Welt um mich herum füllte sich wieder mit Frauen und weiblichen Körpern. Hormonell war das alles erklärbar. Der Testosteronspiegel bei Männern fällt während der Verliebtheitsphase. Der Oxytocinspiegel steigt. Der Druck geht raus, die Zärtlichkeit nimmt zu. Hält leider nicht ewig. Jetzt sank die alte Wippe wieder zurück. Ich sah – wohlinformiert, aber hilflos ausgeliefert – mein Leiden, mein Begehren zurückkehren. Und wie mein Begehren zurückkehrte! Als hätte es zwischendurch promoviert! Wenn ich nicht gerade eine Lebensmittelvergiftung hatte oder einem Geisterfahrer ausweichen musste, war nahezu alles erotisch besetzt. Ich konnte meinen Blick nicht davon wenden, wie Frauen sich beim Telefonieren den Hörer zwischen Kinn und Schulter einklemmten, wie sie die Kuchenkrümel neben ihrem Teller mit dem kurz angeleckten Finger auftipsten, wie sie über einen Tisch gebeugt vom Standbein aufs Spielbein wechselten, wie sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht bliesen, schwere, glänzende Haarsträhnen wie die von Rikki … Ich hatte einfach keine Chance. Es kam von überall her.
Ich war ja selbst schuld. Kluge Männer reagieren auf Sinnlichkeitsdefizite in Langzeitbeziehungen, indem sie sich ein Hobby suchen. Ein Aquarium zum Beispiel hätte mir das alles erspart. Viele Männer meines Alters stehen in Zoolädenund lassen ihre Finger über Moorkienwurzeln gleiten, riechen interessiert an Flockenfutter für Diskusfische und starren begeistert auf den Schwarm Trauersalmler, während die formschöne Verkäuferin neben ihnen unbeachtet auf die Klappleiter steigt. In deutschen Hobbykellern wachsen alljährlich Modellbauten und Eisenbahnanlagen zu Monumenten umgenutzter Libido. Aber ich hatte gedacht, ich wäre stark genug, das auszuhalten. Stattdessen wurde ich immer kribbeliger, immer empfindlicher gegen alles, was nur im Entferntesten mit Sinnlichkeit zu tun hatte. Am Ende war es so weit gekommen, dass ich den Raum verlassen musste, wenn Nergez eine Dose Mangosaft aufknipste.
Ich setzte mich in die Straßenbahnhaltestelle und starrte, die Ellenbogen auf den Knien, fassungslos vor mich hin. Wie hatte mir das nur passieren können? War ich nicht mehr Herr meiner Sinne? Aber wer zum Teufel war der Herr meiner Sinne, und wie konnte ich ihn sprechen?
7
Schließlich hatte ich einfach zu lange in der Straßenbahnhaltestelle gesessen. Ich litt schon seit Jahren unter Achsenzeitproblemen. Die Achsenzeiten, um die mein Leben schlenkerte. Da absolvierte die Familie die Morgentoilette, frühstückte, verteilte sich in den Alltag, kam wieder zusammen und aß zu Abend, ging ins Bett. Die Achsen takteten mein Leben. Sie sagten mir, wie viel Zeit mir noch blieb für dieses oder jenes, und es war eigentlich nie genug. Ich kam einfach nicht dazu, etwas Sinnvolles zu tun, weilimmer irgendein Essen gemacht oder jemand abgeholt oder irgendwo hingebracht werden musste.
Die Gefahr, dass ich eines Tages an einer dieser Achsen stecken bleiben würde, war vermutlich immer schon groß. Aber diesmal saß ich im Wartehäuschen und kam nicht über die Achse. Eigentlich wollte ich die 14er Bahn nehmen, aber ich konnte mich nicht durchringen, mich zu erheben, als sie vorfuhr, dann hätte ich die 24er Bahn nehmen können, aber auch die ließ ich vorbei. Die 34er fuhr ohne mich, und als die 44er abklingelte, kam ein Mann in der Uniform der Städtischen Verkehrsbetriebe auf mich zu. Die Uniform passte ihm nicht, was darauf hinwies, dass es sich um einen lieblos eingekleideten ehemaligen Langzeitarbeitslosen und Lohnzuschussler handelte, aber die Uniform war nicht das Einzige, was ihm nicht passte. «Kann ich helfen?», fragte er mit dem pampigen Unterton
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