Hüftkreisen mit Nancy
«Das ist ja furchtbar», stammelte ich, hatte ich doch gerade beschlossen, nie mehr zu begehren. «Kann ich Ihnen helfen?», fragte Nancy. Ich schritt vorsichtig, weiträumig jeden Blickkontakt vermeidend, wie ein Blinder auf den Counter zu. Zögernd trat ich näher. «Ich möchte ein bisschen Eisen stemmen», sprach ich mit gesenktem Kopf die Tischplatte an. «Muskelaufbau also!», sagte Nancy und begann, unter dem Tresen herumzukramen, um irgendwelche Formulare und Schreibzeug zusammenzuholen. Muskelaufbau. Das klang, als hätten mich zwei Pfleger hier reingetragen. Ich hob den Kopf und versuchte mich an ihre Gegenwart zu gewöhnen. Nancy las irgendwelche Tarife vor und sah mich dann erwartungsvoll an. Ihre Lider waren zweifarbig geschminkt. Die Wimpern waren echt.
«Ich nehm den Arbeitslosentarif, die Vormittagskarte», sagte ich.
«Wie groß sind Sie und wie schwer?» Ich sagte es ihr, sie trug es ein. Immerhin ein Anfang. Nancy hauchte den Stift an. Im Odenwald gibt es eine Sekte, die daran glaubt, dass Mädchenatem das Leben verlängert. Beim Stift schien es zu funktionieren. Schwungvoll kratzte sie meine Daten aufs Papier. Schöne Schrift. «Und wie schwer bist du?», fragte ich Nancy zurück.
«So um die fünfzig Kilo. Warum?»
«Nur so», erwiderte ich und überlegte den Bruchteil einer Sekunde, wie schwer sich fünfzig Kilo anfühlen.
Nancy kam hinter dem Tresen hervor, um mir das Studio zu zeigen.
«Das hier ist der Gerätebereich.» Nancy ging mit leicht nach auswärts gedrehten Füßen vor mir her.
«Hast du mal getanzt?»
«Heh, woher wissen Sie das?»
«Ich habe ab und zu mit Tänzern zu tun. Ich bin Journalist», sagte ich, und weil mir das zu schwach erschien: «Fernsehjournalist!»
«Ach sooo?» Nancy machte ein interessiertes Geräusch und warf mir über die Schulter einen Blick zu. Einer der Gründe, warum ich Journalist geworden bin.
Im Freihantelgehege stöhnten ein paar Fleischberge auf der Drückbank um Gnade. Ich zählte die Summe der aufgelegten Gewichte, und es war eine Zahl außerhalb des medizinisch Vertretbaren.
«Soll ich noch mit Ihnen in die Sauna gehen?» Eine Bilderfontäne ging in meinem Hirn hoch, und ich bekam sie erst nach ein paar Sekunden verstopft. Nancy kippte ihren Kopf zur Seite und sah mich munter an. Wann hatte ich so was das letzte Mal gesehen? Scheint eine Geste zu sein, die sich mit der Jugend aus dem Bewegungsrepertoire verflüchtigt.
«Hallo? Ob Sie noch den Saunabereich sehen wollen …?» Nancy schwenkte ihre Hand vor meinem Gesicht.
«Nein, nein. Danke», sagte ich abwesend. Einer der Fleischberge schmiss den gewichtsmäßigen Gegenwert eines Einfamilienhauses in die Halterung und erhob sich ächzend von der Bank. «Meikel, du Vooochel, wo warst du gestern?», brüllte er einem ebenfalls nicht so leicht zu übersehenden Mann zu, der gerade aus der Umkleide kam. «Wir waren noch im
Flozz
und im
Sechseck
, du halber Hahn. Du hast schlappgemacht.» Ein Lachen brüllend, wankten sieaufeinander zu, warfen die Hände ineinander, zogen daran und rammten sich mit der Schulter. «Du kriegst nichts mit, Alter. Das ist dein Problem! Ich hab sie geknallt, Alter!» Der andere schrie jetzt, dass er das nicht glaube, ja, verdammt nochmal, das glaube er nicht, etliche Male beteuerte er, das nicht glauben zu können, während sein Gegenüber ständig «Ja!» und «Aber jawoll! Und zwar geknallt!» dazwischenbrüllte, und wieder rammten sie einander, dass schon das Zugucken wehtat. Ganz offenkundig war ich in eine Atmosphäre von Sex und Gewalt geraten. Ich blickte zu Nancy, die ein bisschen ihre Anträge in der Klemmmappe ordnete, und sagte: «Ja, doch. Ich denke, ich könnte mich hier einleben.»
Nancy schlenderte mit mir zurück zum Counter. «Das ist Ihre Karte! Die Sauna ist inklusive. Getränke und alles andere kriegen Sie bei mir. Bringen Sie ein Handtuch mit, wegen dem Schweiß.» Eigentlich musste es ja wegen des Schweißes heißen. Aber Nancy kippte ihren Kopf zur Seite und sah mich fröhlich an. Ich hätte das Handtuch auch wegen das Schweiß mitgebracht.
Ich war nicht Bastian Sick, und Grammatikfehler rissen mir nicht den Meldearm hoch. Zudem war ich mittlerweile der Auffassung, dass Nancy alles in allem eine Kluge war. Das schöne Schriftbild, der wache Blick, der schwungvolle Gang. Deutlich anders als bei Fräulein Kelle, meiner Bäckereiverkäuferin. Fräulein Kelle hatte sich eines Tages mit einem unmöglich zu übersehenden Dekolleté in mein
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