Hüftkreisen mit Nancy
Briefkästen. Er grüßte sehr höflich, was den Migrationshintergrund noch um einiges wahrscheinlicher machte, und ich grüßte zurück, aber nur so ein bisschen, weil ich ja von hier war. Ich ging die Treppe hoch und fand die Tür offen. Aber es war niemand am Counter. Gerade wollte ich auf die Tresenklingel schlagen, als ich aus dem Aerobicsaal Musik hörte. Allerdings keine Fitnessmugge, keinen Schwitzesound. Es war Musik von vorvorgestern. Ein sammetpfötig schleichender Bass, irgendein zwielichtiges Bongogeplöppel und dazwischen scharfe, jaulende Trompeten. Ich sah mich um. Nancys Jacke, ein Jäckchen aus Schottenkaros mit Pelzbesatz, hing hinterm Tresen am Barhocker. Sonst nichts. Ich drehte mich um. Am Eingang zum Aerobicsaal stand eine große Sporttasche. Vor der Tasche stand ein Paar Schuhe. Mit Pelzbesatz. Nancy war in Fragen des Kleider-Ensembles etwas strikt. Auf der Sporttasche lagen Klamotten. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es nicht nur ein paar Klamotten waren. Es waren alle Klamotten. Ich schluckte trocken.
Eine soulige Frauenstimme englischer Zunge erfüllte den Aerobicsaal mit der koketten Behauptung, dass Lola alles bekäme, was Lola wolle. Uninteressanter als jetzt hatte eine Tresenklingel noch nie ausgesehen. Ich zog meinen widerlich raschelnden Mantel aus und legte ihn vorsichtig auf dem Hocker ab. Dann ging ich langsam, Schritt für Schritt, auf den hell erleuchteten Aerobicsaal zu. Nicht, dass ich mich angeschlichen hätte. Ich war nur so leise wie irgend möglich. Dann sah ich Nancy. Sie stand vor den Spiegeln, hielt zwei riesige Fächer, die das Aussterben der europäischen Silberreiherpopulation monokausal erklärten, um sich herum. Die englische Soulstimme bestand darauf, dass ich keine Ausnahme von der Regel sei. Der Bass herzkasperte kurz. Die Trompeten fauchten sich an. Nancy hob die Arme und schwenkte ihre Hüfte. In einem Rotationsgrad, den ich überhaupt noch nie gesehen hatte, ging die Hüfte herum.
Es war ein Eisvogelmoment. Ich komme ja aus dem Norden, von den Gewässern her. Ich komme von den lautlosen Sommermorgen, von den dunstigen Ufern, von den spiegelglatten Seen, in die man sich hineingleiten lässt wie in ein Bild. Da fliegt manchmal von Schilf zu Schilf ein Eisvogel vorbei. Schnell. So schnell, dass man nur weiß, etwas bizarr Schönes gesehen zu haben. So schön, dass es nicht in die Natur zu passen scheint. Dann ist alles wie vorher. Nur man selbst steht da und ist ein bisschen erschrocken vor Glück.
So war das jetzt, und, ach, ich vermisste es so. Ich vermisste das Augenglück, die Werbung. Ich vermisste, dass mein Weib, hinter einem Handtuch ihre Hüften schwenkend, sich mir näherte, wie sie es einmal getan hatte. Ichvermisste ihr frivoles «Na, wie wär’s mit uns beiden?». Ich vermisste ihr Begehren, ich vermisste mein Begehren, als es noch groß und ganz war.
Jaul. Diesmal war es keine Trompete. Ich war auf etwas Weiches und zugleich Hartes getreten. Ich senkte meinen Blick. Mein Schuh stand auf einer Hundepfote. Die Hundepfote endete in einem kurzen, krummen Hundebein, und das Hundebein steckte in einer im Vergleich zum Hinterleib doch sehr massigen Hundebrust, der ein kastenförmiger, gedrungener Hundekopf aufgesetzt war. Alles in allem ergab dies einen Pitbull Terrier. Ich war auf eine vierbeinige Landmine getreten. Ich blätterte durch mein inneres Nachrichtenarchiv, ob jemals von Situationen berichtet wurde, in denen diese Killercaniden ihren Tötungsreflex hatten unterdrücken können. Aber Fehlanzeige: Kind verliert Eiskugel – Kampfhund die Nerven. Oma muss hinter Kampfhund niesen – Hinterbliebene können nur noch die Tasche identifizieren. In der Pitbull-Welt gab es keine Einzelfallprüfungen. Gleich würde mein abgebissener Kopf samt Glotzaugen vor Nancys glitzernde Pumps rollen. Ziemlich bizarres Ende. Ich hätte nicht ins Licht gehen sollen. Das war also der Grund, warum die Menschen ängstlich in der Wirklichkeit verharrten. In der Wirklichkeit lagen früh um sieben keine Pitbulls vor halbnackten Tänzerinnen in Fitness-Studios. Aber, hey: ein einfaches Leben, ein einfacher Tod. Das ist auch nichts. Ich hatte es so gewollt.
Der Pitbull schaute mich an und jaulte. Das Jaulen wurde schwächer – oder verlor ich vor Todesangst mein Gehör? – und verkam zu einem Winseln. Mühsam zerrte der Pitbull Terrier seine Pfote unter meinem Fuß hervor, den ich, in Todesangst erstarrt, offenbar nicht weggenommen hatte,
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