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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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werden musste, wenn sie Leonie nicht fanden. Dann würde das Kriminalkommissariat Stralsund übernehmen.
    Er wich einem Dreikäsehoch aus, der mit seinem papageienbunten Rad plötzlich die Straßenseite wechseln wollte und dafür von seinem Vater einen Klaps auf den Hinterkopf kassierte. »Ganz schön was los«, stellte Schöbel auf dem Beifahrersitz fest.
    »Hochsaison.« Kästner fand, das erklärte alles. Das Gedränge zwischen Kaufhalle und Fotogeschäft. Die wild durcheinander geparkten Räder am Ende des Wallwegs. Und auch das spurlose Verschwinden eines Säuglings, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte.
    »Kurz vor zwei hat die Mutter sie zum letzten Mal gesehen. Die Kleine lag schlafend im Kinderwagen unter dem Apfelbaum auf dem Grundstück. Viertel nach zwei wurden wir gerufen und waren kurz danach am …« Unfallort hatte Kästner sagen wollen und gerade noch gemerkt, wie wenig das passte. »… Einsatzort. Die Eltern suchten im Garten und im Haus nach dem Kind. Bei den unmittelbaren Nachbarn waren sie schon gewesen. Keiner von denen hatte die Kleine aus dem Kinderwagen genommen und auch niemanden dabei beobachtet. Kollege Pieplow hat auch noch in den weiter entfernten Häusern gefragt. Nichts. Wie vom Erdboden verschluckt. Die Vitte und die Gellen hab ich vor der Einsatzleitstelle verständigt, weil sonst wohl die Zeit nicht gereicht hätte, um die Passagiere noch zu erwischen.« Kästner warf einen kurzen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. »Jetzt ist es sechzehn Uhr einundfünfzig und ihr seid dran.«
    Schöbel sah schweigend auf die Szene vor sich. Gaffer. Ein Eisverkäufer mit Kühlbox vorm Bauch, der sonst wohl den Strand abklapperte. Die Jungs von der Feuerwehr mit Flaschen in der Hand. Der Polizist vor dem Gartentor musste dieser Pieplow sein, den seine Schulterstücke als Polizeiobermeister auswiesen.
    »Die Feuerwehr, dein Freund und Helfer, immer am Löschen«, höhnte der Junge mit der albernen Sonnenbrille im gegelten Haar.
    »Sehr witzig.« Kästner klang ärgerlich. »Was würdest du machen, wenn du nur zu zweit bist und so eine Sache am Hals hast? deine Kumpels in der Disco anrufen? Und du wirst es nicht glauben, sogar die Jungs von der Seenotrettung sind hier irgendwo und suchen die Kleine oder kontrollieren die Segler, die …«
    »Was ist denn das da für ein Kunstwerk?«, unterbrach ihn der Mann von der Spurensicherung. Die Männer sahen nach links in den Garten.
    Kästner räusperte sich. »Der Kinderwagen.«
    »Wärmeschutzfolie?«
    »Na ja, wir hatten nichts anderes zur Hand.«
    »Clever. Ich glaube, das können wir so lassen und den Wagen verpackt mitnehmen.«
    Schöbel nickte zustimmend. Kästner nahm sich vor, das »Clever« irgendwann an Pieplow weiterzugeben.
    »Pieplow? Hört sich an wie ’ne einheimische Vogelart«, witzelte der junge Bergener.
    Kästner verkniff sich eine Antwort. Pieplow zu triezen war sein persönliches Privileg, aber dem Grünschnabel auf der Rückbank was von uralten Darßer Namen zu erzählen hielt er für Zeitverschwendung.
    »dann wollen wir mal«, brummte Schöbel, während er sich aus dem durchgesessenen Beifahrersitz nach draußen wuchtete. Das Publikum vor dem Haus würdigte er keines Blickes. Gaffer waren ihm schon immer auf die Nerven gegangen, dagegen halfen auch die guten Hinweise nichts, die der Kommissar Öffentlichkeit ihm schon geliefert hatte.
     

     
    Das Kind schrie, als ginge es um sein Leben. Auf der dunkelroten Stirn und der winzigen Oberlippe über dem weit aufgerissenen Mund glitzerten kleine Schweißperlen. Tränen vermischten sich mit Schleim und Speichel, rannen die Wangen hinab und bildeten rechts und links neben den Ohren nasse Flecken auf dem Laken. Wenn es erschöpft für ein paar Augenblicke innehielt, brachten sich der Arm und die Rippen daneben mit einem dumpfen Schmerz in Erinnerung. Was Leonie in den drei Monaten ihres Lebens gelernt hatte, zerbarst Stück für Stück in ihrer unendlichen Angst. Der kleine Mensch, der gerade zu lächeln begonnen hatte, wurde wie ein junges Tier, das mit dem Instinkt aller Lebewesen die Bedrohung spürte.
    Ihre Augen wollten sich nicht an das dunkle Dach über sich gewöhnen und suchten vergebens nach dem vertrauten Spiel von Licht und Schatten, nach spitzen Sonnenstrahlen und weicher Dämmerung. Ihre Nasenflügel blähten sich, als könnte sie Witterung der Mutter aufnehmen, aber da war kein bekannter Geruch.
    Es knackte und knarzte, wenn Schritte näher kamen, die Leonie noch nie

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