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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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Tatort entfernt abgestellt.«
    Nur der mit der Sonnenbrille grinste. Die anderen sahen Pieplow mit ernsten Gesichtern an.
     

     
    Abends 1, morgens 1/2 stand mit schwarzem Filzstift auf der Packung. Darunter ein energischer Strich mit einem kleinen Schlenker am Ende. Weil sie ungeschickt an der schmalen Lasche zerrte, riss die Pappe ein Stück ein, dann rutschten die silbernen Streifen auf den Küchentisch. In beiden waren schon Lücken, in einem drei, in dem anderen fünf. Ihre Finger waren kalt und zittrig, die Folie fiel ihr ein paar Mal aus der Hand, bevor sie zwei Tabletten herausdrücken konnte. Das Glas Wasser, das auf dem Beipackzettel empfohlen wurde, brauchte sie nicht. Sie wusste, die Tabletten waren nahezu geschmacklos. Nach dem Zerkauen konnte man sie im Mund lassen, bis sie sich ganz aufgelöst hatten. Sie bildete sich ein, dass die Wirkung dann schneller einsetzte, und darauf wartete sie jetzt. Mit den Händen so schwer auf den Tisch gestützt, dass die Adern wie dicke blaue Schnüre zwischen den Fingersehnen hervortraten. Wenigstens konnten sie unter diesem Druck nicht zittern, und dass sie kalt und weiß blieben, war gut so. Dann spürte sie wenigstens nichts mehr von ihnen.
    Sie sah hinüber zur Uhr auf der Arbeitsfläche unter dem Fenster. In zwanzig Minuten würde die unerträgliche Spannung sich lösen, in einer halben Stunde würde sie wieder ohne den Druck auf dem Brustkorb atmen können und das Herz in einen ruhigeren Rhythmus fallen. Dann würde sie endlich ihre Gedanken ordnen und entscheiden, was als Nächstes zu tun war. In der Aufregung der ersten Stunden war ihr das unmöglich gewesen.
    Im Nachhinein wunderte es sie, dass alles so reibungslos lief, obwohl sie vieles nicht richtig bedacht hatte. Das Bild von sich und dem Kind war es gewesen, worauf sie sich konzentrierte. Lange bevor sie es zum ersten Mal berührte, hatte sie seine Wärme schon gespürt. Die glatte Haut der Wangen an ihrem Gesicht. Ihre Arme um den kleinen Körper, so dicht an ihrem eigenen, als seien sie eins miteinander. Ihr Kind. Sie hatte ein Recht darauf, und sie brauchte es mehr als sonst etwas auf der Welt. Deswegen hatte sie keine Angst gehabt. Auf dem Weg über die Wiese nicht und auch nicht, als sie neben dem Wagen stand. Sie war nicht einmal besonders vorsichtig. Wartete nur ab, bis der Weg menschenleer war, nahm einfach das schlafende Kind auf und ließ es in die Tasche vor ihren Füßen gleiten.
    Auch als es zu weinen begann, wurde sie nicht ängstlich. Es gab einen kurzen Moment der Ratlosigkeit, aber der war vorüber, als sie das Rad entdeckte.
    Wenn Leute zu nahe kamen, hustete sie laut und anhaltend. Auf dem Weg über die Heide war das nur noch einmal nötig. Sie traf ein älteres Spaziergängerpaar, und vielleicht war das sogar schwerhörig.
    Als sie auf den kleinen Innenhof gerollt war, fühlte sie sich glücklich und leicht. Wie beflügelt. Wie eine Olympiasiegerin, die nach einem langen, kräftezehrenden Lauf die Arme nach oben reißt, bevor sie zu Boden taumelt. Erschöpft, aber glücklich. Sie erinnerte sich an nichts, was ihr so gut gelungen war.
    Sie wünschte, dieses Gefühl hätte angehalten, auch wenn nicht alles so war, wie sie es sich erträumt hatte. Das Kind schrie. Es bog wütend den Rücken, wenn sie es aufnehmen wollte. Es weigerte sich, aus der Flasche zu trinken. Sein Gesicht war nicht warm und weich und rosig, es war heiß und klebrig und rot vor Wut. Seine Stimme bohrte sich schrill in ihre Ohren, bis sie beinahe die Beherrschung verlor. Sie musste verhindern, dass das Schreien nach draußen drang, auch wenn das nächste Haus ein paar hundert Meter entfernt lag. Es kamen gelegentlich Leute vorbei. Radfahrer, denen nur schwierige Wege neben den Straßen Spaß machten. Spaziergänger, die sich abseits des Trubels halten wollten oder neugierig auf die Häuser hinter Kiefern und Heckenrosen waren.
    Sie ließ es auf einen Versuch ankommen. Mit dem scharfen Kartoffelschälmesser, dem mit der Rundung in der Klinge vom vielen Nachschleifen, säbelte sie ein winziges Eckchen ab. Die ganze Tablette für einen Erwachsenen, ein Zwanzigstel für ein Kind, rechnete sie. Damit würde sie kaum Schaden anrichten.
    Sie lächelte, als sie den Kopf zur Stiege wandte. Jetzt war es da oben still. Keine Gefahr mehr. Sie konnte ruhig aus dem Haus gehen. Mindestens zwei Stunden, vielleicht sogar drei oder vier würde das Kind jetzt schlafen. Zeit genug, um das Durcheinander im Kopf zu ordnen, damit er klar

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