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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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Berühmt sind Sie nicht? Als wenn jemand wie der Ahnung von Kunst hätte!«
    Und plötzlich war etwas vorbei. Ihre Sanftmut. Ihr Schweigen. Ihr Wunsch, alles richtig zu machen, ihn zu bewundern für das, was er tat.
    »Es geht um Leonie!«, schrie sie ihm ins Gesicht. »Um Leonie, nicht um dich! Unser Kind ist verschwunden und von dir kommt nur ich, ich, ich!«
    Um ein Haar hätte sie sich auf ihn gestürzt. Ihn geschüttelt oder geschlagen, weil sie es nicht mehr ertrug. Den entsetzlichen Schmerz nicht, den ihr jeder Gedanke bereitete, die Qual der endlosen Stunden ohne das Kind. Ihre Einsamkeit nicht.
    Seitdem fror sie. Obwohl es draußen fast dreißig Grad warm war.
    In ihrem Eiswinter mit Oliver hatte sie nicht gefroren. Da war sie sogar glücklich gewesen. Stolz auf alles bis dahin Erreichte. Ihren Entschluss, auf der Insel zu leben. Das Haus, uralt und marode, und die Pläne für zwei Jahre Arbeit, an deren Ende sie kaum glauben konnte, was sie geschafft hatte.
    An einem dieser kalten Tage stand er in der Tür.
    »Wie in Sibirien«, lachte er und klopfte sich Eisstücke aus der Mütze. »So stelle ich mir Sibirien vor«, und meinte damit die endlose Weite, in der die verschneite Insel zu versinken schien.
    Und dann küsste er sie. Auf den Mund, auf die geschlossenen Augen und, ganz sanft, mit einem kleinen, warmen Geräusch, in die Mulde hinter ihrem Ohr.
    Mitten im Winter waren die Bilder des Sommers zurückgekehrt.
    Die warmen Augustnächte. Der dunkle, klare Himmel, von dem mehr Sternschnuppen fielen, als ein Mensch Wünsche haben kann. Ihre Gespräche über Gott und die Welt. Das vertraute Gefühl, das zunahm, je öfter sie beisammensaßen. Marie mit Gipsresten in den Haaren und Farbspuren an den Fingern.
    »Malerschicksal«, hatte er geflüstert und mit seinem Mund ganz sanft ihre Handinnenflächen berührt.
    Es machte ihm nichts aus, mit seinen Bildern in einem Rohbau zu hausen. Nicht einmal die zerborstene Stalltür störte ihn. Sie hängten ein Badelaken davor, als sie das erste Mal miteinander schliefen.
    Mehr Komfort könne er sich nicht leisten, erklärte er und wirkte betrübt, wenn er darüber sprach, dass sein Sommeratelier bis zum kommenden Jahr ein perfektes kleines Ferienhaus sein sollte.
    Man werde ja sehen, entgegnete sie, vielleicht werde es ja auch gar nicht fertig. Oder die Handwerker streikten. Oder es passierte sonst irgendwas. Etwas, das ihn wiederkommen ließ.
    Und er kam wieder. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Wann es Risse bekam, konnte Marie nicht sagen. Sie wollte auch nicht darüber nachdenken, warum Nähe zwischen ihnen so selten geworden war, erst recht, seit es Leonie gab. Es war, als hätte das Kind sich zwischen sie geschoben.
    Marie zwang sich, ihren Platz am Fenster zu verlassen. Auf dem Weg zur Tür drohten ihre Beine den dienst zu versagen, obwohl sie sich mit einer Hand immer irgendwo festhielt. Am Sessel, in dem sie Leonie stillte. Am Kinderbett oder am Rand des Wickeltisches, auf dem noch Leonies Kleider lagen. Eine weiße Hose und das Hemd mit den Schmetterlingen.
    In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben hatte sie sich mit solchen Nichtigkeiten befasst – das Kind für den Gang zum Hafen hübsch anzuziehen, um sich selbst eine Freude zu machen. Um die Schmeicheleien der Frauen zu hören, die sich über den Wagen beugten.
    Marie fiel das Kind ihres Traums wieder ein. Alles, alles gäbe sie für Leonies nacktes Leben.
     

     
    Wenn sie die Augen schloss, schoben sich die Bilder übereinander, als sei in einer Kamera der Film nicht transportiert worden. Eins lag über dem anderen, und es wollte ihr nicht gelingen, sie voneinander zu trennen.
    Meer, wie es in schläfrigen langen Wellen gegen den Strand rollt. Sie kann es sehen, wenn sie sich aufrichtet, mit dem Ellenbogen in den Sand gestützt, und den Kopf über die Düne schiebt, um sich von der Brise im Sonnenaufgang kühlen zu lassen.
    Sein Lächeln, das spöttisch wirkt, sobald er gleichzeitig die Augenbrauen ein klein wenig hebt. Seine Hände, wie sie sanft über ihren Körper wandern, ein Gefühl wie von ganz feinem Schmirgelpapier.
    Kalte Augen, die sie mustern, als sehe er sie zum ersten Mal. Wen interessiert, was im Sommer war. Und sie weiß nicht, wohin.
    Blut fließt über die Bilder, und der Schmerz hat sie längst in tausend Fetzen gerissen, als endlich alles vorüber ist.
    Erst als sie aufschreckte, bemerkte sie das Kissen, das zu beiden Seiten ihrer verschränkten Arme hervorquoll, so fest hielt

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