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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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sie es gegen den Leib gepresst. Sie lauschte, ob sich das Geräusch wiederholte, das sie aus ihren Erinnerungen gerissen hatte. Wie ein vorwurfsvolles Seufzen hatte es geklungen. Nicht wie die hellen, heiseren Schreie, die zu ihren Bildern gehörten. Sie stand auf und wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen. Im letzten Augenblick fand sie Halt am Türrahmen. Das kurze Stück bis zur Treppe wirkte auf einmal unüberwindlich. Sie musste warten, bis der Schleier vor ihren Augen verschwand und sie die Stiege in Angriff nehmen konnte. Mühsam, den Fuß bei jedem Schritt prüfend auf das Holz gepresst, erklomm sie die Stufen, die rechte Hand am Geländer, in der linken noch immer das Kissen.
    Das Kind lag neben der decke fast quer auf dem Bett. Wie es das fertiggebracht hatte, war ihr ein Rätsel, so bleich und schlaff, wie es vor einer Stunde noch gewesen war. Die Augen hielt es geschlossen, während es den Kopf in Richtung der Schritte drehte.
    Die Frau machte einen Schritt auf das Bett zu, dann noch einen. Mit dem Fuß stieß sie gegen die kleine Lampe, die auf dem Boden stand, damit sie das Kind nicht blendete. Der Lichtkegel schwankte hin und her und ließ ihren Schatten über die Wände huschen wie ein Dämon, der größer und größer wurde, je weiter sie das Kissen hob. Ihre Finger krallten sich tief in den Stoff, bis die Arme zu zittern begannen.
    Nicht mehr denken. Einfach ohne Zögern tun, was man fühlt.
    Das Kind öffnete die Augen. Als es das Gesicht über sich sah, lächelte es, unsicher und zittrig zwar, aber es lächelte, und der Dämon fiel in sich zusammen. Es nahm auch die Milch, die diesmal weniger heiß und weniger süß war. Die Frau beugte sich zu ihm hinab, während es trank. Sie hielt den Kopf schräg und nahm ihren Blick nicht aus dem Gesicht des Kindes. Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte auch sie.
    Ich werde einen Weg finden, murmelte sie. Du wirst sehen, alles wird gut.
    Das glaubte sie umso mehr, als sich das Kind in den Schlaf wiegen ließ, sich nicht mehr aufbäumte, sobald sie es berührte.
    Danach, als das Kind schlief, saß sie lange an ihrem gewohnten Platz, die Füße auf dem kleinen Tisch, aber ohne das Kissen. Sie hatte es weit unter das Sofa gestopft, damit sie es nicht mehr sehen musste. Morgen würde sie es wegschmeißen und nie mehr an den Moment denken, als es über dem Kopf des Kindes geschwebt hatte.
    Sie würde überhaupt nicht mehr an Vergangenes denken. Stattdessen die Zukunft für sich und das Kind planen. Zehn Tage hatte sie noch, dann wollten die Nächsten das Haus beziehen, aus dem sie spurlos verschwunden sein würde.
    Zehn Tage, in denen sie abwarten konnte, ob sich da draußen etwas veränderte.
    Vielleicht, dass sie die Polizisten abzogen. Sicher nicht alle, aber doch einen Teil. Oder auf den Schiffen nur noch Stichproben machten. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie etwas gelesen oder gehört hatte, wie lange so viele Polizisten an einem Fall arbeiteten. Selbst wenn alles blieb, wie es war – immer dieselbe Arbeit ließ unachtsam und träge werden. Das wusste sie und auch, dass sich dann Fehler einschlichen. Für Polizisten galt das bestimmt genauso wie für jeden anderen Menschen.
    Sie musste nur ruhig bleiben, geduldig und klar bei Verstand. Nicht einmal der Blick auf die Tablettenschachtel konnte sie jetzt in Panik versetzen. Sie sah zur Uhr. Zehn vor sechs. Beim letzten Mal war es noch dunkel gewesen. Halb fünf? drei Stunden dauerte es mindestens noch, eher vier, bevor sie die nächsten brauchte.
    Auch damit wird Schluss sein, dachte sie. Wenn alles vorbei ist, wird es keine Tabletten mehr geben. Weil sie überflüssig sein werden. Wenn die Angst vorüber ist und ich glücklich bin, brauche ich auch keine Tabletten.
    Aber dass sie jetzt zur Neige gingen, war nicht gut. Jetzt, wo es auf jede Kleinigkeit ankam, wollte sie kein Risiko eingehen. Auch das nicht, dem Inselarzt gegenüberzusitzen. Das Rezept in der Sammelstelle abgeben. Stundenlang auf die Lieferung warten. Schon der Gedanke an die vielen prüfenden Augenpaare ließ ihre Hände schwitzen. Unter den Blicken, die sich in ihren Kopf zu bohren versuchten, würde ihr Herz zu rasen beginnen, bis sie kaum noch ein vernünftiges Wort herausbrachte.
    Alles Verdächtige melden. So hatte es auf diesem Zettel gestanden. Aber sie würde sich nicht verdächtig machen. Sie stand aus ihrem Sessel auf, um die silbrigen Streifen zu prüfen. Vier waren noch übrig. Gegen halb sieben ein winziges Stück

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