Hühnergötter
für das Kind. Den Rest würde sie mitnehmen. Zwei Dörfer, zwei Ärzte, zwei Apotheken. Auf Rügen ließ sich das finden.
Wieder sah sie zur Uhr. Kurz vor sechs. Auf dem Weg zur dusche zog sie sich schon das Hemd über den Kopf. Bevor sie das Wasser andrehte, horchte sie auf Geräusche von oben, aber alles blieb still.
In einer Stunde ging die erste Fähre. Um sieben ab Kloster. Mit etwas Glück konnte sie um elf schon wieder zurück sein. Sie machte eine Liste der dinge, die es heute zu erledigen gab. Mit dem Fahrrad nach Kloster. Den Gepäckträger mit einem Handtuch verbergen. Die Fähre nach Rügen. Arztpraxen suchen. Rezepte einlösen. Milch für das Kind besorgen. Dann konnten sie die Überwachungskamera in der Kaufhalle in Vitte auf die Babynahrung richten, solange sie wollten.
Sie beglückwünschte sich, dass ihr sogar das eingefallen war. Die Überwachung der Babyabteilung. Fast hätte sie laut zu singen begonnen.
Montag
Pieplow fühlte sich ausgehöhlt. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Drei, vielleicht vier, wenn er die Zeit mitrechnete, in der er sich mit wüsten Bildern herumgeschlagen hatte. Schreiende Frauen über tote Kinder gebeugt. Kleine Leiber mit grauenhaften Wunden und Gesichtern so wächsern und starr, dass es einen schauderte. Sein Kopf schmerzte und seine Augen brannten, als habe er Sand unter den Lidern. Zweimal gähnte er so heftig, dass seine Kiefergelenke knackten. Trübsinnig starrte er auf den schlierigen schwarzen Spiegel hinab, der sich auf seinem Kaffee bildete. Eine lauwarme schwarze Brühe im Pappbecher. Er verzog angewidert das Gesicht.
Ob hier wohl jemals wieder alles normal wurde? Kästner und er, gemütlich unten im Wachraum. Ungeschriebene Tagesberichte, Schmalzkuchen mit heißem Milchkaffee aus großen Pötten. Sein einziges Problem: die Sache mit den Frauen. Von Kästners Macken abgesehen. Er hob den Kopf und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Trotz der offenen Fenster stank es nach Kneipe. Der Gemeinderat würde sein Sitzungszimmer bis Weihnachten lüften müssen, um den Mief wieder rauszukriegen. Kalter Rauch, kalter Schweiß, kalter Kaffee. Eine üble Mischung.
Reiß dich zusammen, ermahnte Pieplow sich. Konzentrier dich, sonst hast du nachher das Wichtigste verpennt und kommst überhaupt nicht mehr mit.
»… Abgleich der Daten bisher nichts gebracht«, schloss Ostwald gerade und zündete seine Zigarette an.
Mehr hatten die Zugführer der Bereitschaftspolizei auch nicht zu melden. Bisherige Suchaktion ergebnislos.
»Aber noch sind wir nicht auf dem Gellen gewesen. Auf dem Bessin auch nicht«, sagte der eine.
»Naturschutzgebiet, unbewohnt«, gab sein Nebenmann zu bedenken.
Pieplow wusste nicht, ob das für die Suche nun gut oder schlecht war.
Durch die offene Tür drang das Klingeln der Telefone.
Es fehlte nicht viel, und der Kaffee wäre auf Pieplows Hose geschwappt, als Kästner ihm auf die Schulter tippte.
»Musst du so schleichen?«, beschwerte sich Pieplow auf dem Weg die Treppe hinunter.
»Seit wann bist du so schreckhaft?«, gab Kästner zurück. »Soll ich vielleicht das Palaver stören, nur weil noch so’n rostiger Drahtesel aufgetaucht ist?«
»Und wo?«
»Kloster. Am Hafen. Der olle Niemann hat angerufen. Er schwört Stein und Bein, dass es genau so aussieht, wie’s auf dem Handzettel steht.«
»Abends um zehn würde ich ihm das nicht mehr glauben.«
»Nee, eher nicht.«
Mindestens fünf Doppelkorn genehmigte sich der olle Niemann, bevor er heimwärts schob. Kam ganz darauf an, wer einen ausgab.
Auf dem Weißen Weg gab es Gedränge. Fußgänger. Krischan mit seinen schweren Mecklenburgern vor dem Planwagen. Zwei junge Reiterinnen, die blasiert von ihren Gäulen herabschauten. Kästner hupte.
Die Urlauber reckten die Hälse, bis der Streifenwagen außer Sicht war.
der olle Niemann wartete schon. Wies nur stumm mit dem grau gekauten Mundstück seiner Pfeife Richtung Fahrradständer.
Diamant. Braungrau. Der neue Chromgepäckträger glänzte in der Sonne.
»Kann hinkommen«, schätzte Kästner. »Oder?«
»Sieht so aus«, bestätigte Pieplow. Keiner von ihnen berührte das Rad.
»Seit wann steht es da?«
Fritz Niemann hob langsam die Schultern. Ließ sie wieder sinken. Nahm die Pfeife aus dem Mund. Musterte das Rad.
»Stand schon da, als ich kam«, sagte er dann und kratzte sich mit dem Pfeifenstiel an der Stirn.
»Und wann war das?« Kästner drohte schon der Geduldsfaden zu reißen.
»Wie immer.« Hetzen
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