Hühnergötter
rechtzeitig genug darüber nachgedacht hätte, ob der Mann mit dem Kind und die Frau auf dem Deich wirklich zusammengehörten. Blödsinn, beruhigte er sich. Sie hat sich durch nichts verdächtig gemacht. Und dafür, dass eine Frau nicht mehr so hübsch und unbekümmert wirkt wie noch ein paar Jahre zuvor, konnte es tausend Gründe geben.
Ostwalds Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Die Gegenwart, in der diese Frau seit vier Stunden tot war, gestorben in den Trümmern eines blauen Golf an einem Alleebaum zwischen Trent und Schaprode.
»Bisher wissen wir aber nicht, ob Sandra Marwede die Frau ist, nach der wir suchen. Vielleicht wartet irgendwo eine Freundin mit Kind oder sonst jemand, für den sie nur einkaufen wollte. Wie dem auch sei, ich« – Ostwald pochte sich mit den Fingerspitzen gegen die Brust – »bin mir fast sicher, dass wir endlich eine Spur haben. Eine ziemlich heiße sogar.«
Wenn Ostwald Recht hatte, dann war ein drei Monate alter Säugling möglicherweise seit neun Stunden allein, ohne dass irgendjemand auch nur die leiseste Ahnung hatte, wo man ihn suchen sollte. Oder in den Händen eines Komplizen, der jeden Augenblick die Nerven verlieren konnte.
»Das Problem ist, dass sich Sandra Marwede nicht in der Kurverwaltung angemeldet hat«, erklärte Ostwald. »Entweder hat sie es vergessen, oder sie wollte schlichtweg die Kurtaxe sparen. Oder es gab einen Plan, nach dem sie unerkannt auftauchen und wieder verschwinden wollte. Wir müssen …« Ostwalds Handy knurrte und zitterte auf der Tischplatte. Das »Ja«, mit dem er sich meldete, klang gereizt. Aber dann schien sein Gesprächspartner etwas zu sagen, das ihn bestätigte. »Dachte ich’s mir doch … ist das sicher? … habt ihr auch? … gut. Danke.«
Ostwald zog eine Zigarette aus seiner rot-weißen Schachtel, behielt sie dann aber unangezündet zwischen den Fingern.
»Prima.« Er neigte den Kopf in Pieplows Richtung, als habe der sich um die Ermittlungen besonders verdient gemacht. »Auf dem Rad, das ihr heute Morgen in Kloster sichergestellt habt, wurden die gleichen Fingerabdrücke gefunden wie auf dem Kinderwagengriff. «
»Und das bringt uns jetzt irgendwie weiter?«
Pieplow hatte fast vergessen, dass es den jungen Bergener mit der Sonnenbrille auch noch gab.
»Das könnte schon sein.« Ostwald wirkte fast heiter. »dann nämlich, wenn sich herausstellt, dass es die Fingerabdrücke von Sandra Marwede sind, und das prüft die Technik gerade.«
»Möglicherweise haben wir dann die Täterin«, meldete sich Schöbel zu Wort. »Aber was ist mit dem Kind?«
Alle Augen wanderten von Schöbel zu Ostwald zurück. Pieplow ahnte, was jetzt kommen würde. Die Stapel Zettel mit dem Führerscheinbild von Sandra Marwede waren eigentlich schon Antwort genug auf Schöbels Frage.
»Wir müssen ihr Quartier finden! Und das muss schnell gehen, sehr schnell. Ich wette tausend zu eins, dass dort auch das Kind steckt. Wir gehen immer noch davon aus, dass Leonie lebt, aber es wird mit jeder Stunde enger. Deswegen will ich Zutritt zu allen Wohnungen und Häusern, zu denen sich die Mieter nicht finden lassen. Zu jedem Schuppen, der jemals als Urlaubsquartier genutzt wurde. Findet heraus, wer die Eigentümer sind und an wen sie vermietet haben. Für die Durchsuchungsbeschlüsse sorge ich.« Er hob einen Papierstapel vor sich mit beiden Händen auf und knallte ihn zurück auf den Tisch. »Ich will außerdem, dass ihr in eurem Abschnitt jeden befragt. Wirklich jeden, egal, was die Leute gerade machen. Es ist völlig schnurz, ob sie gerade Zander essen oder einkaufen, sich anschreien oder rumknutschen. Ihr haltet allen einen Zettel unter die Nase und hört euch an, was sie dazu zu sagen haben!«
Pieplow hätte sich diesmal einen anderen Abschnitt gewünscht. Die Häuser zwischen dem Hotel zur Ostsee und Außendeich mochten noch angehen, aber nirgendwo gab es am Strand so viele Nackte wie am südlichen Ende des Seedeiches. Er sah sich mühsam in seinen schwarzen Halbschuhen von Sandburg zu Sandburg stapfen, seine Zettel in der Hand, Notizblock und Stift griffbereit in der Brusttasche. Blanke Busen, hoch aufgereckte Hintern von Leuten, die irgendwas buddelten, schwarzes und blondes und rotes Schamhaar. Und er vorschriftsmäßig in Uniform: »Entschuldigen Sie …« Pieplow unterdrückte ein Seufzen.
Wie mit einem weiten Netz zogen sie über die Insel in der Hoffnung, es möge der eine oder andere Fang dabei sein.
Eine Verkäuferin, die sich
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