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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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hätte seine Meinung geändert, dass ich mich selbst belog. Ich versuchte zu übersehen, dass sein Lächeln gequält und seine Aufmerksamkeiten gespielt waren.
    Ein paar Wochen später erlitt ich eine Fehlgeburt. Kurz darauf kam seine Affäre ans Licht. Und dennoch hatten wir uns am Morgen seines Verschwindens geliebt und zusammen Croissants gegessen. Tragischer Verrat vermischt sich mit den Banalitäten des Alltagslebens, die Liebe legt sich eine vorübergehende, als Vergebung getarnte Amnesie zu, um zu überleben. Sind alle langen Ehen aus diesem Stoff gemacht? Vielleicht nur meine.
    Nach seinem Verschwinden kamen die vielen verschütteten Erinnerungen ans Licht. Ich hatte mir etwas vorgemacht und mir eingebildet, scharfsichtiger zu sein als die anderen. Dabei sah ich nur, was ich sehen wollte, und den Rest bog ich mir zurecht. Ich stieg an der 86. Straße aus der U-Bahn und fand mich auf der Fifth Avenue wieder, ungefähr auf Höhe meines Apartments, nur dass der riesige Central Park zwischen uns lag. Ich schleppte die Handtasche einer Toten mit mir herum, schwer vom Gewicht des ersten Revolvers, den ich jemals in der Hand hatte, und fühlte mich unendlich weit von meinem alten Leben entfernt. Ich hätte genauso gut auf dem Mond sein können.
    Ich lief an der auf dem Kopf stehenden Zikkurat des Guggenheim-Museums vorbei, dessen weiße Front sich still und weit wie eine Mondlandschaft vor mir erhob, und wünschte mir, ich könnte sorglos in der Museumsspirale herumspazieren und die Surrealisten, Impressionisten, Post-Impressionisten und Meister der frühen Moderne bewundern. Die Künstler starben, aber die Kunst blieb in der Form von friedlichen Werken zurück, selbst wenn ihre Schöpfer alles andere als das gewesen waren.
    Abends wurde es in dieser Gegend ruhig, und aufgrund der Nähe zum Central Park schien die Luft hier besser zu sein als in den anderen Stadtteilen. An jedem anderen Abend hätte ich mich hier vollkommen sicher gefühlt, aber nun blickte ich ständig über die Schulter, lauschte auf Schritte hinter meinem Rücken und beobachtete die anderen Fußgänger misstrauisch. Ich griff in die geschmacklose Handtasche und berührte die Waffe. Falls es sein musste, wäre ich in der Lage, sie zu benutzen.
    Während ich ging, ließ ich die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden Revue passieren. War es tatsächlich nicht länger her? Die furchtbaren Schreie am Telefon, Freds Kopf in der Blutlache auf dem Marmorboden, die hübsche Camilla mit der durchtrennten Kehle. Mich beschlich das schreckliche Gefühl, dass die ganze Sache, Trevor hatte es bereits geahnt, mindestens eine Nummer zu groß für mich war. Ich dachte an meine Schwester, die sich bestimmt große Sorgen machte und ausflippen würde, wenn sie erfuhr, dass ich Erik mit einem Revolver bedroht hatte. Dann würde sie wissen, wie durcheinander und verzweifelt ich war. Während meine Schritte auf dem Asphalt laut durch den stillen Abend hallten, erlebte ich einen Moment der Klarheit: Ich sollte Detective Crowe anrufen und ihm alles erzählen, meinen Anwalt benachrichtigen, in das nächste Taxi steigen und mich stellen. Ich sollte aufhören, mich so kindisch zu benehmen, und stattdessen den gutgemeinten Rat und die Hilfe annehmen, die man mir anbot. Meiner Familie zuliebe, mir selbst zuliebe. Ich blieb abrupt stehen und zog Camillas Handy aus meiner linken, Detective Crowes Karte aus meiner rechten Tasche. Ich hätte ihn anrufen und dem ganzen Theater ein Ende bereiten können.
    Ich dachte an »S« mit den bösen, toten Augen und dem perfekten Körper. Erneut stieg Galle in meiner Kehle hoch, und an ihrem Geschmack erkannte ich die grenzenlose Wut in mir. Ich steckte Handy und Visitenkarte wieder ein, denn ich konnte nicht zulassen, dass ein anderer meine Geschichte zu Ende schrieb. Ich musste es selbst tun.
    Versuch nicht, mich zu finden oder die Antworten auf die Fragen, die du dir jetzt sicher stellst. Falls doch, kann ich dich und deine Familie nicht beschützen.
    Ich hörte seine Stimme in meinem Kopf so deutlich, als stünde er neben mir.
    Vor wem beschützen? Vor den dunklen Seiten seiner selbst, vor dem Schatten, der fünf Jahre mit mir zusammengelebt, das Bett mit mir geteilt hatte? Detective Breslow hatte mich gefragt, ob Marcus in der Vergangenheit psychische Probleme gehabt habe. Vielleicht war es so. Woher sollte ich das wissen? Der Mann in Camilla Novaks Wohnung war mein Mann gewesen, ich hatte ihn erkannt. Er war kein Verrückter,

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