Huete dich vor deinem Naechsten
dichtgemacht.«
»Es ist einen Versuch wert.«
»Aber auch das wird bis morgen warten müssen.«
Grady warf einen Blick auf die Uhr: kurz vor zehn. Bis zum nächsten Morgen war es noch lang. Sie konnten es sich nicht erlauben, auf die Unterlagen der Bank und des Mobilfunkanbieters zu warten oder auf die Öffnungszeiten einer Firma, die vielleicht nicht mehr existierte.
»Und bis dahin?«, fragte er.
Jez kehrte ihm den Rücken zu. »Wir gehen von Tür zu Tür und lassen uns von allen Nachbarn bestätigen, dass niemand etwas gehört oder gesehen hat. Dann nehmen wir Erik Book mit und befragen ihn. Ich glaube nicht, dass er uns die ganze Wahrheit gesagt hat.«
»Und falls er sich hinter seinem Anwalt versteckt - was bestimmt der Fall sein wird -, gehen wir tanzen.«
»Du kannst Gedanken lesen.«
Früher hatte ich vor nichts Angst. Ich war so überzeugt von mir, von meiner Meinung, meinen Wünschen und Zielen. Ich kann mich an die hitzigen Diskussionen erinnern, an denen ich mich an der NYU beteiligt hatte - über Politik, Literatur, Geschichte. Alles erschien mir glasklar. War jemand nicht meiner Meinung, irrte er. Ich entsinne mich keines einzigen Vorfalls, der meine Sichtweise verändert hätte.
Als ich älter wurde, verflüchtigten sich meine leidenschaftlichen Überzeugungen. Ich wurde zurückhaltender, stiller. Meine Selbstgerechtigkeit schwand. Ich mied die lautstarken politischen Diskussionen, in die ich mich früher gestürzt hatte. Bei Auseinandersetzungen zu existenziellen Themen, etwa zu Religion und Moral, fühlte ich mich unwohl. Es gab so viele Meinungen und so viele von sich überzeugte Verfechter einer These. Langsam dämmerte mir, dass die Welt äußerst komplex war, dass sich manche Unterschiede nicht überbrücken ließen und der Kampf sich nicht lohnte.
Auch bei Linda stellte ich diese Wendung fest. Nach dem Selbstmord unseres Vaters war sie so wütend gewesen - und es geblieben: auf ihn, auf unsere Mutter, auf Fred, auf alle, die ihr komisch kamen oder sie ihrer Meinung nach schlecht behandelten. Ständig war sie in irgendwelche Streitereien verwickelt; sie diskutierte wegen Kleinigkeiten mit Verkäufern, Kellnerinnen, Physiotherapeuten. Einmal musste ich sie - schreiend und schimpfend - aus einer Schwulen-Karaokebar im Village schleifen, weil sie sich wegen irgendetwas mit einer Drag Queen angelegt hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es gleich zu einer Schlägerei gekommen wäre.
Aber als Erik in ihr Leben trat, veränderte und beruhigte sie sich. »Er hat den Dorn aus ihrer Tatze gezogen«, hatte Fred auf seine typische, ruhige Art gesagt. Und als Emily kam, wurde Linda noch ruhiger, und nach Trevors Geburt war sie so heiter und gelassen wie eine Nonne. Ich betrat ihr Loft und fand mich in einem Chaos wieder. Schmutziges Geschirr in der Spüle, auf dem Fußboden Babyspielzeug, Kleiderberge und Plüschtiere, aber Linda lag zufrieden auf dem Wohnzimmerteppich und ließ für Trevor einen Schlüsselbund im Sonnenlicht baumeln oder las Emily aus einem der Bücher vor, die sich neben dem Sofa stapelten.
»Ich habe einfach keine Kraft mehr, Isabel«, hatte sie mir eines Nachmittags gestanden. Ich besuchte sie zu Hause, und sie erzählte mir von einer schlechten Kritik, die sie gerade bekommen hatte. Niemand freut sich über schlechte Kritiken, aber Linda konnte damit gar nicht umgehen. Sie schmollte tagelang, beschwerte sich telefonisch bei der Zeitungsredaktion, schrieb eine gemeine »Kritik der Kritik«, die sie dem Kritiker schickte. Aber an jenem Nachmittag zuckte sie nur die Achseln.
»Ich kann mir diese Gefühlsausbrüche nicht mehr leisten. Man ist seinen Kindern was schuldig, weißt du. Man bringt sie auf die Welt, ohne dass sie darum gebeten hätten. Man hat seine eigenen Motive, gute und schlechte. Das Mindeste, was ich für sie tun kann, ist, mich nicht wie eine Zicke aufzuführen, die ständig tobt, meckert oder heult.«
Ich erkannte die simple Wahrheit ihrer Worte.
»Ich meine, sieh sie dir doch an«, fuhr Linda fort und zeigte auf Trevor, der in der Windel herumtaperte und sich wahllos große, bunte Spielzeuge in den Mund schob. »Wir waren alle mal so klein. Jeder Idiot auf der Straße, jeder Massenmörder und jeder korrupte Politiker hat irgendwann mal auf einem Plastikschlüsselbund rumgekaut und ist mit nasser Windel durch ein Wohnzimmer gerannt. Wenn man das einmal kapiert hat, ist es viel leichter, tolerant zu sein, anstatt sich ständig aufzuregen.«
Ich
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