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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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der die Kontrolle verloren hatte, er war nicht dem Wahnsinn verfallen, sondern er selbst gewesen, nur dass er sich endlich ohne Maske gezeigt hatte.
     
    Ich lief immer weiter, bog nach links in die 88. Straße ab und kam an prächtigen Stadthäusern vorbei, bis ich vor jenem stehen blieb, das ich so gut kannte. Als ich auf die Klingel drückte, fragte ich mich zum hundertsten Mal: Wie in aller Welt kann er sich dieses Haus leisten? Ein dreistöckiges Reihenhaus auf Manhattans Upper East Side, der Gold Coast? Hier zu wohnen konnten sich nur die Superreichen leisten. Selbst die Reichen zählten in dieser exklusiven Gegend zum Pöbel. Einmal war ich so unhöflich gewesen, ihn danach zu fragen.
    »Du hast mich reich gemacht«, hatte er gesagt, worauf ich lachte. Ohne Marcus’ Einkommen hätten wir uns unser Apartment auf der Upper West Side nie leisten können. Ich säße dann immer noch in meiner kleinen Wohnung im East Village.
    »Ich habe nicht einmal mich so reich gemacht.«
    »Du verdienst gut.«
    »Nein, im Ernst!«
    Ich kann mich nicht an seine Antwort erinnern. Zugegebenermaßen war das Haus bei seinem Einzug nur das Skelett des Palastes gewesen, den er jetzt bewohnte; nackte Balken und Rohre, abgesackte Treppe, Wasserflecken an den Wänden. Er hatte das Haus selbst renoviert und die meisten Arbeiten eigenhändig ausgeführt. Fünf Jahre nach der Zwangsversteigerung glich es einem Juwel. Jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, war er mit einer neuen Restaurierungsaufgabe beschäftigt. Er erinnerte mich an Fred, der damals unser altes Haus wieder auf Vordermann gebracht hatte.
    »Man sagt, ein Mann, der ein Haus bauen will, habe in seinem Leben noch nicht genug erreicht«, erklärte Jack. Er verlegte gerade das neue Parkett im Flur der ersten Etage. Ich lag auf der Schwelle zum Schlafzimmer, hatte die Füße gegen den Türrahmen gestemmt und ein Bier in der Hand - keine große Hilfe. Ich war seit einem Jahr verheiratet, und Marcus befand sich auf Geschäftsreise - dachte ich zumindest damals. Wer weiß, wo er sich wirklich aufhielt?
    »Glaubst du daran?«, fragte ich.
    Jack schlug einige Male mit dem Hammer zu, das Geräusch hallte durch die meist leeren Zimmer.
    »Keine Ahnung«, antwortete er schließlich. Ich musste an unsere gemeinsame Nacht denken. Plötzlich hatte ich alles wieder vor Augen, und mir wurde ganz heiß. Ich erinnerte mich an seinen heißen Atem an meinem Ohr. Isabel, ich liebe dich, immer schon. Was hatte ich darauf geantwortet? Ich wusste es nicht mehr.
    »Was ist mit dieser Frau, die du kennengelernt hast? Eine Lektorin, stimmt’s?«
    »Sie meinte, bei mir wären zu viele Korrekturen nötig.«
    Ich kicherte und lachte schließlich lauthals los, und dann rollten wir uns beide auf dem Boden, bis uns die Tränen übers Gesicht liefen und wir uns den Bauch halten mussten.
    Jack war so schnell an der Tür, als hätte er direkt dahinter gewartet. Er sah besorgt aus, nein, bestürzt.
    »Himmel«, sagte er zur Begrüßung und warf erleichtert die Hände in die Luft. »Es ist fast elf Uhr. Ich bin krank vor Sorge. Deine Schwester ruft ständig an.«
    »Was hast du ihr gesagt?«, fragte ich und trat ein.
    »Dass ich nichts von dir gehört hätte. Sie hat gemerkt, dass es gelogen war.«
    Er packte mich an den Armen und musterte mich.
    »Du siehst schlimm aus«, sagte er. »Dein Verband ist voller Blut.«
    Ich fasste mir an den Kopf und spürte, dass der Verband nass war. Jack schob mich durch den schmalen Flur zu dem großen Badezimmer, das hinter der Profiküche lag. Die Küche bestand aus Granit und Edelstahl und blitzte vor Sauberkeit, wie es nur möglich ist, wenn man sieben Tage die Woche außer Haus isst. Ich war beim Eintreffen der Granitblöcke hier gewesen und hatte Jack beim Auspacken der Haushaltsgeräte geholfen.
    Als ich in den Badezimmerspiegel blickte und sah, was Jack gesehen hatte, musste ich fast heulen. Schrecklich war das falsche Wort - ich sah so abgerissen, mitgenommen und blass aus wie Ivan. Ich erinnerte mich an die Wunde an seiner Brust. Auch aus seinem Verband war Blut gesickert. Bizarrerweise fühlte ich mich dem großen und doch so schwachen Mann irgendwie verbunden.
    »Das ist entzündet«, erklärte Jack und verzog das Gesicht, als er den Verband abgenommen hatte. »Bleib hier.«
    Sobald er hinausgegangen war, ließ ich mich auf die weiche Badematte sacken und lehnte mich an den hölzernen Waschtisch. Ich hörte Jack die Treppe heraufpoltern, und eine Minute später war er

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