Huete dich vor deinem Naechsten
einen Bruder namens Ivan. Bewahren Sie die alten Akten auf?«
Sie schüttelte den Kopf, noch bevor ich den Satz beendet hatte. »Seit dem Fall des Kommunismus werden alle Akten eingescannt. Die alten waren lückenhaft, zerstört oder verschwunden. In den letzten Jahren haben wir hier gründlich ausgemistet.«
»Aber irgendwo muss seine Akte liegen. Vielleicht bei jemandem, der lange hier gearbeitet hat?«
»Das Ausmisten bezog sich nicht bloß auf die alten Akten. Dieses Haus wird privat geführt, aber früher unterstanden alle Waisenhäuser dem Staat. Die Pädagogik war steinzeitlich, die Heimleitung korrupt. Wir mussten uns von der Vergangenheit lossagen, um es besser zu machen, im Sinne der Kinder.«
Sie sah, wie ratlos ich war, und schenkte mir ein trauriges Lächeln.
Was hatte ich mir erhofft? Dass irgendjemand ihn kennen würde, mir eine aktuelle Adresse geben könnte? Dass man mir die alten Akten zeigen und ich etwas Wichtiges entdecken würde? Ich wusste es selbst nicht. Mir wurde klar, wie unsinnig dieser Ausflug war. Mein Mann war verschwunden, seine Geschichte verloren gegangen. War er hier aufgewachsen, in einem kommunistischen Waisenheim, allein und verängstigt? Stimmte überhaupt irgendeine seiner Geschichten? Ich musste mich an den Gedanken gewöhnen, es möglicherweise nie zu erfahren.
»Es tut mir leid«, sagte die junge Frau. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Sie haben mehr Kenntnisse über unseren anonymen Spender als ich.«
Als ich in den Wartebereich zurückkam, muss ich wirklich niedergeschlagen ausgesehen haben, denn Jack sprang sofort auf.
»Was hast du rausbekommen?«
»Nichts.« Ich erzählte ihm alles, als wir das Heim verließen und zum Auto gingen.
»Wo ist unser Dolmetscher?«, fragte ich. Wir schauten uns um. Ein kräftiger Wind blies, und es war kälter geworden. Alle Kinder waren verschwunden.
»Das weiß ich nicht«, sagte Jack, »aber wir sollten ihn suchen. Er hat die Autoschlüssel.«
Ich ging zum Haus zurück und setzte mich auf die Treppe.
»Ich habe gesehen, wie Ales sich mit einem Mädchen unterhalten hat«, sagte ich. Jack lief unruhig um das Auto herum.
»Glaubst du wirklich, Marcus ist hier aufgewachsen?«
»Das würde eine Menge erklären.«
»Wahrscheinlich.«
Die Wolken wurden immer dichter, und der Himmel verfärbte sich zu einem bedrohlichen Grau, das Schnee ankündigte. Ich kauerte mich zum Schutz vor der Kälte zusammen. Aber die eisigen Schauder kamen von innen. Nichts würde mich aufwärmen.
»Jack, ich habe ein schlechtes Gefühl.«
Er stellte sich vor mich. Der Wind zerzauste ihm das Haar und zerrte an seinem Mantel. Hinter ihm sah ich Ales aus den Bäumen treten. Das Mädchen von vorhin folgte ihm. Sie hatte rabenschwarzes Haar, breite Schultern und schmale Hüften. Ihre Augen waren schwarz, und die Tätowierung wirkte wie eine Maske. Sie versteckt sich dahinter, dachte ich plötzlich. Tätowierungen funktionieren wie eine Rüstung; sie verstellen den Blick auf das, was darunter liegt. Ihr Haar war zerwühlt, und an der Rückseite ihrer Jacke klebten Dreck und Grashalme.
»Wir wollen los«, sagte Jack zu Ales. »Wo haben Sie gesteckt?«
Ales nickte in Richtung des Mädchens. »Sie sagt, sie wüsste, wo Sie den Mann finden, den Sie suchen.«
Als ich hinter die Tätowierungen und den schwarzen Lidschatten blickte, erkannte ich einen sehr jungen, verletzlichen Menschen. Ich fragte mich, auf wie viele Arten dieses Mädchen missbraucht worden war, und verspürte den Impuls, sie zu umarmen, aber alles an ihr - ihre Aufmachung, ihre Haltung - schien mich wegzustoßen.
»Wie?«, fragte ich und schaute sie an. Sie senkte den Kopf und weigerte sich, mir in die Augen zu sehen.
»Sie versteht Sie nicht«, erklärte Ales. »Aber sie sagt, für die Leute hier seien Kristof Ragan und sein Bruder Ivan so was wie lebende Legenden. Angeblich haben sie während der Zeit des Kommunismus hier gelebt und sind dann in die USA ausgewandert, wo sie heute reiche, berühmte Geschäftsmänner sind, die in riesigen Villen leben. Sie schicken dem Waisenhaus Geld. Deswegen gibt es hier Computer und neue Schulbücher.«
Das Mädchen hielt den Blick gesenkt. Mich beschlich das Gefühl, hereingelegt zu werden - ob von dem Mädchen oder Ales, konnte ich nicht sagen. Aber ich war verzweifelt genug, um mitzuspielen.
»Kde?«, fragte ich sie. Wo? Sie blickte mich erschreckt an. »Prosím«, sagte ich. Bitte . »Kde je Kristof
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