Huete dich vor deinem Naechsten
ein bisschen.«
Er beugte sich hinunter und küsste sie sanft auf den Mund. Zum ersten Mal. Er hob den Kopf, um ihr Gesicht zu sehen - überrascht, erfreut. Er küsste sie ein zweites Mal, länger diesmal, und schob einen Arm um ihre Taille. Sie schmiegte sich an ihn. Er fühlte nichts, keine Wärme, keine Zuneigung. Nur eine körperliche Erregung und das angenehme Kribbeln des Triumphs, der gelungenen Eroberung. Bei Isabel war es anders gewesen, vielleicht sogar bei Camilla. Aber diese Momente lagen weit in der Vergangenheit, so wie die anderen Leben, die er geführt hatte.
Und in diesem Moment erblickte er sie - die dunkle Lockenpracht, den energischen Gang. Einen Augenblick lang glaubte er zu halluzinieren, unter einer so großen nervlichen Anspannung zu stehen, dass er sie sah, wo sie nicht war.
Aber nein. Isabel kam direkt auf ihn zu, ohne ihn erkannt zu haben. Sie war blass und wirkte wütend und unglücklich. Schnell drehte er sich zur Seite und tat so, als wollte er Martina an die Steinbrüstung führen. Er zeigte über das schwarze Wasser zu einem Café hinüber.
»Den besten Blick auf Prag hat man von den Tischen dort drüben«, erklärte er. Er fragte sich, ob seine Stimme etwas von dem Adrenalin verriet, das durch seine Adern schoss.
»Dann lass uns hingehen«, sagte sie.
Sie wird sich durch nichts davon abhalten lassen, dich zu verfolgen. Er hörte Saras Worte . Wenn es um Frauen geht, bist du ein Schwächling.
Er hielt Martina umarmt und beobachtete, wie Isabel in der Menschenmenge auf der Brücke verschwand. Er hatte erst kurz zuvor bemerkt, dass sie nicht allein war. Neben ihr ging jemand. Er kannte den Mann, brauchte aber einen Moment, um das Gesicht einzuordnen. Und dann erfüllte ihn eiskalte Wut.
»Alles in Ordnung?«, fragte Martina. »Marek, geht es dir nicht gut?«
»Doch«, sagte er, »komm, lass uns gehen.«
Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Brücke.
»Sie ist hier.«
Wahrscheinlich wunderte sich Martina darüber, dass er ihre Verabredung vorzeitig beendet hatte, aber ihm blieb keine Wahl. Er entschuldigte sich, räumte ein, sich tatsächlich nicht gut zu fühlen, brachte sie zum Hotel zurück und versprach, morgen wiederzukommen. Sie war gekränkt, das konnte er sehen. Er würde es wiedergutmachen.
Auf dem Weg zu seinem Apartment rief er Sara an. Sie seufzte.
»Ich hab’s dir doch gesagt.«
»Ich brauche Hilfe.«
»Ich werde mich drum kümmern.«
»Nein, Sara, ich werde mich drum kümmern«, erwiderte er ungeduldig.
Sie schwieg, dann sagte sie: »Wie du willst. In welchem Hotel ist sie abgestiegen?«
FÜNFUNDZWANZIG
D er griechische Philosoph Heraklit war der Ansicht, das ganze Universum befinde sich im Fluss; beständig sei nur der Wandel. Er sagte: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.« Ich glaube, er hatte recht. Ich glaube aber auch, dass manche Dinge nicht an uns vorbeifließen, sondern durch uns hindurch. Sie verändern uns innerlich, und irgendwann stauen sie sich auf und bilden einen Sumpf, aus dem wir uns nicht mehr befreien können. So kommt unsere Entwicklung zum Stillstand.
Schon von der Straße aus war die Hoffnungslosigkeit, die das Gebäude ausstrahlte, fast greifbar, dabei wirkte der graue, flache Komplex gar nicht so unfreundlich. Ich hatte genug über die postkommunistischen Kinderheime gelesen, um die schlimmsten Befürchtungen zu hegen, aber als wir näher kamen, wirkten das Haus und das Grundstück gepflegt, wenn auch jetzt im Winter etwas kahl. Im Sommer warfen die hohen Bäume wahrscheinlich einen angenehm kühlen Schatten auf die gewundenen Wege, auf denen sich Jugendliche tummelten, die wie ganz normale Schüler aussahen. Trotz der Kälte saß ein Mädchen lesend unter einem Baum, ein anderes hockte mit geschlossenen Augen auf der Treppe, die zu einer Flügeltür hinaufführte, und hörte über Kopfhörer Musik. In einer Ecke drückten sich ein paar magere, raue Jungs herum und rauchten heimlich.
Ich spürte sämtliche Blicke auf uns, als wir aus dem Mercedes stiegen und zur Treppe liefen. Ein amerikanisches Pärchen mit tschechischem Führer und einem neuen Mercedes war hier wohl ein seltener Anblick. Hinter den Fensterscheiben im ersten Stock entdeckte ich Kindergesichter.
»Die gesunden Kinder aus Tschechien und der Ukraine werden sofort weitervermittelt«, erklärte unser Dolmetscher Ales in perfektem Englisch. »Aber die Roma bleiben bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag hier. Und dann - wer weiß? Sie fangen an,
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