Huete dich vor deinem Naechsten
Ragan?«
SECHSUNDZWANZIG
K de je Kristof Ragan?
Dann nichts als diese unheimliche Stille, in der ich nur meine eigenen, angestrengten Atemzüge höre und das Knirschen meiner Schuhe im Schnee. Die gewundene Kopfsteinpflasterstraße verschwindet vor meinen Augen im fallenden Schnee, der auf Treppenstufen und Fenstersimsen liegen bleibt. Zwei weitere Schüsse krachen, aber erst als ich hinter meinem linken Ohr ein Flüstern höre, begreife ich, dass es so weit ist. Ich drehe mich um und sehe ihn, ein bedrohlicher, schwarzer Riese vor weißem Hintergrund.
Er hat es nicht eilig und schließt doch mühelos zu mir auf, während ich an einem geschlossenen Café, einem Ledergeschäft und einem Designerladen für Kinderbekleidung vorbeihumple. Ich fange an, gegen Türen zu hämmern und zu schreien, aber die Stadt scheint alle Geräusche zu verschlucken. Niemand antwortet mir, niemand kommt an die Tür. Vor mir entdecke ich zwei schmiedeeiserne Gitter, die sich auf einen kleinen Hinterhof öffnen. Ich schleppe mich hindurch und drücke die Tore hinter mir zu. Ich kann nicht mehr. Ich muss mich verstecken.
Der Wind verfängt sich in dem kleinen Hof und heult von allen Seiten. Ich drücke mich an der Wand entlang und versuche, keine Spuren auf dem Schnee zu hinterlassen. Ich sehe eine geöffnete Tür, dahinter nur Finsternis. Ich trete ein und höre im selben Moment, wie die Gitter an der Straße sich quietschend öffnen. Ich erinnere mich an den Satz, den ich Jack gesagt habe. Ich würde lieber in einer dunklen Gasse sterben, als mein Leben lang unwissend im Licht zu stehen . So hatte ich das nicht gemeint.
»Isabel!«, ruft er. Er klingt so ruhig, so gefasst. Im selben Ton könnte er fragen, ob ich seine Sportsocken eingesteckt oder vergessen habe, Rasierklingen zu kaufen. Aber nun ruft er mich aus einem anderen Grund. Ich stütze mich an der kalten Wand ab. Vor mir hallt ein weiter Raum. Ich höre Wasser tropfen. Ich bin unbewaffnet und sitze in der Falle. Ich schließe die Augen und versuche, meinen Atem zu kontrollieren.
»Isabel, lass uns reden. Ich werde die Pistole hinlegen.« Ich spähe durch den Türspalt und sehe, wie er die Waffe in den Schnee legt und die Hände in die Luft hebt. Mein Instinkt rät mir, keinen Mucks zu machen, in meinem Versteck zu bleiben, mich noch tiefer in die Finsternis zurückzuziehen und dort zu warten. Aber eine bestimmte Frage treibt mich an, die Frage, die mich während der letzten Tage so viele falsche Entscheidungen hat treffen lassen. Sie zwingt mich hinaus. Er hat mir viel gesagt, aber ich habe meine Antwort noch nicht bekommen. Ich will es immer noch wissen.
Warum?
Ich stoße gegen die Tür, die sich mit einem lauten Knarren öffnet. Er dreht sich zu mir um; der Wind wird stärker, er heult durch den Hof und wirbelt Schnee auf. Die Welt erscheint mir plötzlich schwarz-weiß. Irgendwie sieht er verändert aus. Er hat sich Haare und Bart wachsen lassen, die jetzt viel dunkler wirken, sie sind eher braun als dunkelblond, die Farbe, an die ich mich gewöhnt hatte. Wir bleiben sekundenlang so stehen und starren einander an. Er lässt die Arme sinken und steckt sich die Hände in die Hosentaschen.
Ich frage mich, ob ich ihm genauso fremd bin wie er mir. Ich schäme mich für meine zerrissene Kleidung und den fehlenden Schuh. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Er lächelt mich traurig an.
»Isabel«, beginnt er. »Das war schon immer dein größtes Problem. Du bist zu vertrauensselig.«
Bevor ich fragen kann, was er mir damit sagen will, zieht er eine zweite Waffe aus der Tasche, und ich sehe nichts als das Mündungsfeuer, als plötzlich ein grauenhafter, bewusstseinsverändernder Schmerz in meine Körpermitte fährt. Die Kälte des Steinbodens, auf den ich aufschlage, ist erschreckend, der Himmel leuchtet in einem überirdischen Silbergrau. Plötzlich sehe ich eine neue Farbe: Dunkelrot. Ich höre nichts als seine gedämpften Schritte. Er geht langsam weg.
»Kde je Kristof Ragan?«
Ich höre mich diese Frage stellen. Davor waren wir noch in Sicherheit. Ich hatte die Frage noch nicht gestellt, und wenn das Mädchen nicht geantwortet hätte, wäre ich jetzt im nächsten Flugzeug nach New York. Ich habe das Gefühl, über dem Schmerz zu schweben, mich hoch über das Brennen in meinem Unterleib erhoben zu haben. Ich bilde mir ein, ganz in der Nähe Schüsse zu hören. Aber ich weiß nicht mehr, was real ist. Vielleicht höre ich nur meinen eigenen Herzschlag. Ich
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