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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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sehe den Schnee in dicken, nassen Flocken fallen, ein Sternenmeer, das ich durchfliege. Vor mir spielen sich die letzten Stunden ab wie ein Film.
     
    Das Mädchen mit dem tätowierten Gesicht sagte etwas zu Ales. Sie sprach leise und schnell. Ich verstand kein Wort.
    Er nickte und sah mich an. »Sie sagt, sie könne Sie zu einem Ort führen, wo man ihn kennt.«
    Jack sieht mich an; er will mich warnen. »Das ist keine gute Idee.«
    »Was will sie?«, frage ich.
    »Was alle wollen«, sagte Ales und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Geld. Zweihundert US-Dollar.«
    »Einverstanden.«
    Jack packte mich am Arm und zog mich beiseite. »Das ist doch verrückt. Lass uns verschwinden. Du wirst mit diesem Mädchen nirgendwo hingehen. Denk mal nach. Die wollen dich reinlegen.«
    Er schaute zu Ales hinüber, ohne meinen Arm loszulassen. Ich konnte sehen, dass Jack der Geduldsfaden gerissen war. Er hatte meinem verzweifelten Plan zugestimmt, weil er überzeugt gewesen war, nichts zu erreichen. Aber jetzt bekam er Angst. Angst davor, ich könnte finden, was ich suchte.
    »Sie soll uns sagen, wo er sich aufhält«, sagte er zu Ales. »Sie bekommt ihr Geld, aber bevor wir gehen, soll sie sagen, wohin sie uns führen wird.«
    Ales übersetzte, aber ich hatte das Gefühl, das Mädchen hätte Jack ohnehin verstanden. Sie betrachtete ihn mürrisch und stieß einen kurzen Satz hervor.
    »Es gibt da einen Ort, an dem man ihn kennt. Da kriegt man alles - Drogen, Waffen, was auch immer«, erklärte Ales.
    »Was für ein Ort?«, fragte Jack. Langsam wurde er sauer, er klang feindselig. Sein Hals war rot angelaufen, und an seiner Schläfe trat eine Ader hervor.
    Das Mädchen drehte sich um, murmelte etwas in Ales Richtung und ging weg. Ales zuckte die Achseln. »Sie sagt, wir sollen es vergessen. Sie ist nicht auf Sie angewiesen. Sie braucht Ihr dreckiges amerikanisches Geld nicht.«
    »Gut«, sagte Jack und schob mich zum Auto. »Machen wir, dass wir wegkommen.«
    Dann hielt er inne, ohne mich loszulassen. Wahrscheinlich war ihm eingefallen, dass wir den Autoschlüssel dummerweise unserem Dolmetscher gegeben hatten.
    »Was ist mit Ihnen?«, fragte Jack. »Würden Sie unser dreckiges amerikanisches Geld annehmen?«
    Ales antwortete mit verbitterter Miene, wie sie uns derzeit auf der ganzen Welt zu begegnen schien. Er nickte kurz.
    »Dann sollten wir jetzt fahren.«
    »Warte!«, rief ich dem Mädchen nach, das schon wieder auf dem Weg zum Haus war. Sie blieb stehen und drehte sich zu uns um. Ich machte mich von Jack los und lief zu ihr.
    »Isabel!«, rief Jack.
    »Jack, bitte warte im Auto. Ich komme gleich zurück.«
    Jack schlug die Hände vors Gesicht und lehnte sich an den Mercedes. Er redete mit sich selbst, ich wollte es nicht hören.
    »Du sprichst Englisch«, sagte ich. Es war keine Frage.
    »Ein bisschen.«
    »Kannst du mir helfen?«
    Sie nickte. »Ich kann Ihnen helfen, ihn zu finden.«
    Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie vor den Tätowierungen - schwarze Kringel um die Augen, die Nase, den Mund - wohl ganz hübsch gewesen war und fragte mich, ob es weh tat, sich das Gesicht tätowieren zu lassen, und wie sie das Geld dafür aufgetrieben hatte. Sie roch nach Sex und Zigaretten. War es den Jugendlichen im Waisenheim erlaubt, sich so etwas selbst anzutun? Gab es keine Betreuer? War es allen egal? Ihre Augen wirkten stumpf und leer. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte. Unter anderen Umständen hätte ich mich für »nein« entschieden, aber meine Verzweiflung vernebelte mir den Verstand.
    »Okay«, sagte ich, »komm mit.«
    Wir gingen zum Auto. Jack und ich stritten eine Viertelstunde, während das Mädchen und Ales uns aus der Nähe beobachteten, rauchten und verächtliche Gesichter machten. Schließlich waren Jack und ich so wütend aufeinander, dass es nichts mehr zu sagen gab. Wir stiegen ins Auto, und einen Moment später taten es die anderen uns gleich. Als das Mädchen auf den Rücksitz kletterte, bemerkte ich die kleine Nylontasche in ihrer Hand.
    »Musst du nicht Bescheid geben, wenn du gehst?«, fragte ich. Ich schaute kurz zum Gebäude hinüber und rechnete damit, jemanden herauskommen zu sehen. Sicher würde man uns fragen, wo wir mit dem Mädchen hinwollten. Aber plötzlich wirkte die gesamte Anlage so verlassen, obwohl ich wusste, dass sich drinnen viele Menschen aufhielten. Das Mädchen lachte unfreundlich.
    »Wie heißt du?«, fragte ich sie. Aber sie hatte wieder beschlossen, mich nicht zu

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