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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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eingesteckt hatten, war der Rest reine Routine. Keiner schien es besonders eilig zu haben, und ein jeder wandte sich der ihm zugeteilten Aufgabe zu. Niemand schaute in meine Richtung. Nach einer Weile kam mir die Situation sehr unwirklich vor, so als sähe ich es im Fernsehen, so als hätte ich zu spät eingeschaltet und das Wichtigste verpasst. In einem Moment wollte ich über meine missliche Lage lachen, im nächsten weinen.
    Ich bemerkte, dass an diesem Morgen keiner von Marcus’ Angestellten zur Arbeit erschien. Wahrscheinlich wurden sie abgewiesen oder gleich unten im Hauseingang verhaftet. Ich wusste es nicht.
    Plötzlich wurde mir klar, dass ich keinesfalls verpflichtet war, hier herumzusitzen und zu warten wie ein braves, kleines Mädchen. Was, wenn Marcus längst verhaftet war? Ich hatte danach gefragt, aber keine Antwort erhalten. Hatte er aus dem Grund nicht angerufen, war er deswegen nicht nach Hause gekommen? Ich spürte neue Hoffnung, und Adrenalin schoss durch meinen Körper. Selbst wenn diese Erklärung nicht schön war - sie würde mich wenigstens von meinen schlimmsten Befürchtungen befreien. Dann würde ich ihm helfen können. Ich begriff, dass es an der Zeit war, Verstärkung zu holen - Linda und Erik, meine Mutter und Fred, Jack. Außerdem brauchten wir einen Anwalt. Dringend.
    Ich entdeckte mein Spiegelbild in der Glasscheibe. Ich saß zusammengekrümmt wie eine alte Frau da, bleich und elend. Ich trug einen langen, schwarzen Wollrock, knöchelhohe, schwarze Lederstiefeletten, einen dicken Pullover und einen Poncho. Meine mehr als schulterlangen Haare, ein Wirrwarr aus schwarzen Locken, sahen noch unordentlicher aus als sonst. Ich musste mich zusammenreißen und die Situation in den Griff bekommen.
    Ich nahm den Telefonhörer ab, musste aber feststellen, dass die Leitung tot war. Ich beobachtete die Polizisten, die immer noch dabei waren, Marcus’ so mühevoll eingerichtetes Büro auseinanderzunehmen. Die Renovierung hatte Monate gedauert und Hunderttausende von Dollar gekostet, wir hatten all unser Geld hineingesteckt und zusätzlich Kredite aufgenommen. Ich ging zur Tür und merkte, dass sie abgeschlossen war. Mein Mund und meine Kehle wurden schlagartig trocken, und Panik erfasste mich, als ich den Türknauf ein zweites Mal drehte. Das dürfen sie nicht, oder? Mich hier festhalten ohne Haftbefehl, ohne Anklage, ohne Telefon?
    Ich fing an, gegen die Tür zu hämmern; dann stellte ich mich an die Scheibe, damit die anderen mich sehen konnten. Aber niemand schaute herüber. Ich begann, die Leute einzeln ins Visier zu nehmen. Einer der Männer wies eine tiefrote Narbe im Gesicht auf, die sich von seinem rechten Augenwinkel bis unter den Kragen seiner schwarzen Weste zog. Er war untersetzt, und sein ungewaschenes Haar hing ihm bis auf die Schultern. Ein anderer Mann hatte tätowierte Hände. Ich entdeckte eine Frau mit einer pinkfarbenen Strähne im weiß gebleichten Haar. Sie hatte die Strähne unter die schwarze Wollmütze geschoben, aber sie rutschte immer wieder heraus und fiel ihr ins Gesicht.
    Mich beschlich eine furchtbare Ahnung, und die Angst ballte sich in meiner Magengrube zusammen, als ich sah, wie die blonde Frau wieder hereinkam. Diese Leute waren nicht vom FBI. Die Frau grinste mich höhnisch an, in der Hand eine große Pistole. Das Ding sah wie die Karikatur einer Schusswaffe aus, so schwarz und bedrohlich, aber gleichzeitig nahm ich sie kaum wahr. Stattdessen bewegte ich mich auf die Frau zu.
    »Was geht hier vor?«, fragte ich. Ich wunderte mich über meinen ruhigen, gefassten Tonfall.
    »Marcus hat sich in dir geirrt«, erwiderte sie. »Du wirst uns Ärger machen, stimmt’s?« Ihre Worte landeten in meinem Gesicht wie Spucke. Sie versuchte nicht einmal mehr, ihren Akzent zu kaschieren. Ich erkannte ihn sofort.
    »Was haben Sie gesagt?«, flüsterte ich ungläubig. »Wer sind Sie?« Obwohl sie ein paar Zentimeter größer war als ich, stärker und mit breiteren Schultern, konnte ich mir nach einem Blick auf ihre Beine und Hüften sicher sein, keine Angst vor ihr haben zu müssen. Tatsächlich verspürte ich sogar den Wunsch, meine Hände an ihren langen, weißen Hals zu legen, Waffe hin oder her. Sie schien meine Gedanken lesen zu können, denn plötzlich riss sie die Augen auf, hob den Arm hoch und schlug mir die Pistole mit aller Kraft an die Schläfe. Mir blieb keine Zeit, den Schlag abzuwehren, ehrlich gesagt spürte ich ihn kaum. Ich hörte nur einen lauten, dumpfen

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