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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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lächelte ihn an, bedankte mich und nahm das Buch, das er mir entgegenhielt. Als Erstes bemerkte ich seine Hände, die schmal und kräftig wirkten. Ich befand mich in einem kleinen Buchladen und hatte eben aus meinem neuen Roman vorgelesen. Abgesehen von diesem einen Gentleman waren alle Zuhörer aufgestanden und gegangen, ohne mein Buch zu kaufen. Der Wind rüttelte an der Ladentür, bis das kleine Glöckchen klingelte. Die dicken, schweren Schneeflocken, die vom Himmel fielen, machten sich nicht die Mühe, liegen zu bleiben und hübsch auszusehen. Ich signierte das Buch mit schwarzem Edding und war in Gedanken schon bei meinem Schlafanzug, der dicken Daunendecke und Seinfeld -Wiederholungen. Aus dem Augenwinkel konnte ich die Buchhändlerin hinter dem Tresen gähnen sehen. Abgesehen von uns dreien befand sich niemand mehr im Laden; es war fast neun Uhr.
    Ich gab dem Fremden das Buch zurück. Er stand da und trat von einem Bein aufs andere, nahm all seinen Mut zusammen, um etwas zu sagen. Ich machte mich darauf gefasst, etwas über das Buch zu hören, an dem er gerade arbeitete, und ob ich ihm einen Verlag oder einen Agenten empfehlen könne. Aber nichts dergleichen kam.
    »Noch einmal vielen Dank«, sagte ich. »Sehr nett von Ihnen, an so einem ungemütlichen Abend herzukommen.«
    »Auf keinen Fall hätte ich das verpassen wollen«, antwortete er.
    Ich stand auf, zog meinen Mantel von der Stuhllehne und nahm das leise Klingeln des Türglöckchens kaum wahr. Als ich mich umdrehte, war er weg. An jenem Abend war ich so müde, sehnte mich so sehr nach meinem Zuhause, dass ich ihn, abgesehen von seinen Händen, kaum wahrgenommen hatte. Bei einer Gegenüberstellung hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Das sah mir gar nicht ähnlich. Normalerweise sauge ich alle Details, alle Schwingungen auf wie ein Schwamm, ob ich es will oder nicht. Der Fluch der Schriftstellerin. Aber nicht an jenem Abend. War ich müde, wollte ich einfach nur schnell nach Hause? Oder lag es an ihm, an seiner Ausstrahlung? Konnte er sich unsichtbar machen? Was immer der Grund war, ich hatte den Mann vergessen, als ich mich von der Buchhändlerin verabschiedete und auf die Straße trat.
    Er stand vor dem Laden unter einem riesigen, schwarzen Regenschirm und wartete auf mich. Ich spürte kurz Panik in mir aufsteigen.
    »Ich bin kein Psychopath«, sagte er schnell und hob eine Hand. Er musste mir den Schreck angesehen haben, und wie schnell ich mich umdrehte, um wieder in den Laden zu gehen. Er lachte nervös, starrte in den fallenden Schnee hinein. Vielleicht war es ihm peinlich, mich erschreckt zu haben.
    »Wäre es verrückt, Sie zum Abendessen einzuladen?«, fragte er nach einer kurzen, unbehaglichen Pause.
    »Ein bisschen«, antwortete ich, während ich ihn mit Blicken abschätzte, ihm in die Augen sah und seine Körpersprache zu deuten versuchte. Er war groß, wirkte sehr stark und hatte breite Schultern. Seine kräftigen Finger schlossen sich fest um den Regenschirmgriff. Mit der teuren Laptoptasche und den eleganten Herrenschuhen sah er so gar nicht wie ein Spinner aus. Er trug eine dunkle Cabanjacke aus Wolle und einen grauen Kaschmirschal. Im Licht der Straßenlaterne leuchteten seine ernsten, weit aufgerissenen Augen in einem atemberaubenden Hellblau. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Mundwinkel; sein Kinn schien wie aus einem Felsbrocken gehauen. Plötzlich fing ich zu zittern an, und meine Haut begann am ganzen Körper zu kribbeln.
    »Tja, dann lassen Sie uns doch ein bisschen verrückt sein. An einem öffentlichen Ort natürlich, wo wir nicht allein sind.« Sein Lächeln wurde breiter. Ich konnte sehen, dass er innerlich über sich und die Situation lachte. Auch ich musste lächeln, über seinen Mut und seine Unverfrorenheit.
    »Wann haben Sie zum letzten Mal was Verrücktes getan?«, fragte er, ohne sich von meinem Schweigen oder meinem strengen Blick einschüchtern zu lassen.
    Ich hätte einfach weggehen, ins nächste Taxi einsteigen und nach Hause fahren können. Eigentlich wollte ich nichts lieber tun, und ehrlich gesagt stand ich schon am Bordstein. Aber dann hatte ich einen meiner lichten Momente. Meine Schwester hatte recht gehabt, als sie sagte: Du bist überhaupt nicht bereit, irgendwas zu verändern, um einen Mann in dein Leben zu lassen. Oder etwas in der Art. Auf einmal bekam ich Lust, ihr zu beweisen, dass sie falsch lag.
    Ich betrachtete den Mann mit anderen Augen. Er lächelte immer noch, wartete immer noch. Die

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