Huete dich vor deinem Naechsten
und hörten kaum einmal ein böses Wort. Beide schauten drein, als hätte man sie geschlagen. Ich hatte mich immer gefragt, ob es gut sei, sie zu behandeln wie rohe Eier, und ich machte mir Sorgen, sie könnten unter die Räder kommen, sobald sie ihre privilegierte Montessoriwelt verlassen und ins echte Leben hinausgeschickt würden. So wie in diesem Moment.
Als der Polizist sah, dass ich bei Bewusstsein war, zog er das schwere, schwarze Funkgerät aus seinem Gürtel, wandte sich ab und redete hinein. Es ging um irgendeine Zeugin.
»Bin ich das? Bin ich die Zeugin?«, fragte ich meine Schwester.
»Sie warten darauf, dich vernehmen zu können«, entgegnete Linda, nickte und rieb sich die Augen.
»Wer?«
»Die Polizei«, flüsterte sie und beugte sich vor. »Man hat dich im Büro gefunden. Izzy, da ist alles kaputt, alles geklaut oder zerstört, überall Sprühfarbe. Irgendjemand hat die Polizei gerufen. Du hast bewusstlos hinter Marcs Schreibtisch gelegen. Man hat dich hergebracht und uns angerufen. Der Detective will kommen, sobald du aufgewacht bist.«
»Diese Leute - waren gar nicht vom FBI«, sagte ich. Der Kommentar war ziemlich überflüssig.
»Nein«, meinte Linda kopfschüttelnd, »waren sie nicht.«
»Warum haben die mich nicht umgebracht?«
»Izzy!«
Ich wollte mich nicht beklagen, eigentlich hatte ich aus reiner Neugier gefragt. Sie hätten mich umbringen müssen. Ich hatte sie gesehen und war in der Lage, jeden Einzelnen zu identifizieren - was ich in Kürze auch tun würde. Aber sie hatten mich verschont. Warum? Wenn man sich von Berufs wegen mit Handlung und Plot auseinandersetzt, erscheint einem dieses Vorgehen unüberlegt und schlampig.
Meine Schwester hatte den Kopf zwischen die Hände gesteckt, und ich konnte ihre Schultern zucken sehen. Sie weinte immer, wenn sie gestresst oder wütend war. Einige Leute betrachteten das als Schwäche, aber ich wusste, was es war: ihr Überdruckventil. Die Kinder kamen näher, und Trevor legte seinen Kopf an Lindas Schulter. Emily nahm meine Hand.
»Was ist mit dir passiert, Izzy?«, flüsterte mir Emily ins Ohr. Ihr Atem roch nach Fruchtschorle. Aus unbekannten Gründen weigerte sie sich, mich »Tante« zu nennen, was mir nur recht war. Die Anrede kam mir viel zu förmlich und altmodisch vor und verdeutlichte eine innere Distanz, die sie hoffentlich niemals fühlen würde. Ich drückte ihre Hand und schaute in ihr besorgtes Gesicht. Sie war spindeldürr, schlaksig, ein cooles Stadtmädchen mit dem Herzen einer Dichterin.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte ich müde. Sie drehte sich um und betrachtete den Polizisten, der wieder auf seinem Stuhl saß und die New York Post aufgeschlagen hatte. Er schien an unserem Familiendrama nicht weiter interessiert und saß seine Arbeitsstunden ab.
»Wo ist Marcus?«, fragte Emily. Ich versuchte, nicht wieder in Tränen auszubrechen. Es reichte, wenn eine von uns heulte. Kinder sollten nicht dazu gezwungen sein, die Erwachsenen zu trösten.
»Keine Ahnung, Em«, brachte ich heraus und drückte ihre Hand.
»Wie meinst du das?«
Trevor starrte mir ins Gesicht, und beide Kinder wirkten plötzlich verängstigt. Hinter ihnen tauchte Erik auf, der seine Hände auf ihre Schultern legte. Die Kinder drehten sich um und umschlangen seine Taille.
»Also gut, hört mal zu«, sagte er bemüht unbeschwert. Er war nicht besonders groß, aber er versprühte eine ungeheure Kraft und Energie. Männer mochten ihn, Frauen flirteten mit ihm. Wenn er in der Nähe war, fühlten alle sich gut.
»Wir müssen jetzt zusammenhalten. Alles wird gut.«
Vier ungläubige Augenpaare starrten ihn an. Ich sah, wie er sich zusammenriss.
»Wirklich«, sagte er, »ich verspreche es.«
Ich wurde erst Stunden später behandelt. Die klaffende Wunde an meiner Schläfe wurde gesäubert, genäht und verbunden. Dem sehr jungen Arzt zufolge, der mich versorgte, hatte ich eine schwere Gehirnerschütterung. Er ermahnte mich, die Wunde zu pflegen, meine Antibiotika zu nehmen und mich auszuruhen.
»Andernfalls werden Sie die Konsequenzen tragen müssen. Kopfverletzungen sind heimtückisch. Damit ist nicht zu spaßen.«
Er war erschütternd blass, die Haut auf seinen Händen fast durchscheinend, so dass man die Adern als dicke, blaue Schnüre erkennen konnte. Er sah aus, als würde er Tag und Nacht im grellen Neonlicht verbringen.
Wir befanden uns immer noch in der Notaufnahme, inzwischen jedoch in einer kleinen, durch einen Vorhang abgetrennten
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