Huete dich vor deinem Naechsten
Kabine, nicht größer als ein Schuhkarton. Der Polizist saß davor. Ich erkannte seinen massigen Schattenriss auf dem weißen, dünnen Stoff. Die Detectives, die kommen und mich befragen wollten, waren immer noch nicht da.
»Ein Schlag gegen die Schläfe kann tödlich sein«, erklärte der Arzt mit ernster Miene. »Sie haben großes Glück gehabt.«
Ich hatte nicht die Kraft zu antworten. Meine Schwester saß neben mir auf einem winzigen, unbequem aussehenden Hocker und hielt meine Hand. Erik hatte die Kinder zu seiner Mutter gefahren und wollte anschließend versuchen, etwas über Marcus’ Verschwinden herauszufinden und über den Einbruch im Büro, falls man das so nennen konnte. Eine seltsame Ruhe machte sich in mir breit; ich fühlte mich wie benebelt, so als wäre in meinem Hirn etwas kaputt. Wenn die Schmerzen, die Angst und der Kummer zu groß werden, schaltet sich der Kopf für eine Weile aus. So geht die Psyche mit traumatischen Erfahrungen um. Ein Klinikpsychiater hatte es mir einmal so erklärt, als ich für einen Roman recherchierte. Ich hatte ihm damals schon geglaubt, konnte es aber jetzt erst nachfühlen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Linda, als der Arzt gegangen war. Seit meinem Aufwachen wiederholte sie die Frage alle fünfzehn Minuten, es war wie ein nervöser Tic.
»Würdest du bitte aufhören, mich danach zu fragen?«
»Entschuldige«, sagte sie, richtete sich kerzengerade auf und drückte den Rücken durch.
»Du klingst wie Mom.«
»Schon gut, schon gut«, sagte sie und hob beide Hände, um sie schließlich wieder in den Schoß fallen zu lassen. »Es tut mir leid. Du musst deswegen nicht gemein werden.«
»Hat Erik angerufen?«, fragte ich.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display, dabei wussten wir beide, dass er nicht angerufen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Ich machte den Mund auf, aber sie unterbrach mich.
»Auf Marcus’ Handy und in eurem Apartment habe ich vor fünf Minuten angerufen.«
Ich schloss die Augen. Es passierte nicht wirklich. Wieder sah ich das Gesicht der Blondine. Was hatte sie gleich gesagt? Marcus hat sich in dir getäuscht. Du wirst uns Ärger machen, stimmt’s? Jedes Mal, wenn ich ihre Stimme in meinem Kopf hörte, fühlte ich mich schlechter und trauriger. Und es gab da noch einen Satz, der nachhallte, weil er mir tief ins Gedächtnis eingebrannt war, egal wie oft ich versucht hatte, ihn zu vergessen: Ich kann dich immer noch in mir spüren.
»Diese Frau«, sagte meine Schwester, die wieder einmal meine Gedanken gelesen hatte. Es war immer schon so gewesen mit uns - wir riefen uns gleichzeitig an, beendeten die Sätze der anderen, kauften einander die gleichen Geschenke. »Bist du dir ganz sicher, dass sie das gesagt hat?«
»Ja.«
Linda beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. Ihr Gesicht nahm stets einen verträumten, abwesenden Ausdruck an, wenn sie besonders diplomatisch sein wollte. »Ich meine ja bloß … immerhin hast du eine Gehirnerschütterung.«
»Linda, ich weiß, was ich gehört habe«, sagte ich und fühlte mich im selben Augenblick schlecht, weil ich so gereizt klang. Aber ich entschuldigte mich nicht. Stattdessen schloss ich die Augen und kehrte ihr den Rücken zu.
Sie schwieg einen Moment lang, aber ich hörte ihren Fuß auf den Boden klopfen.
»Soll ich irgendwen anrufen?«
»Wen?«
»Jack, zum Beispiel?«
»Nein«, sagte ich. »Nein. Wann wirst du endlich damit aufhören?«
Ich hörte sie aufstehen und leise seufzen. »Ich werde uns was zu essen holen«, sagte sie.
»Gut«, entgegnete ich mürrisch, »lass dir Zeit.«
Sie legte mir kurz eine Hand auf die Schulter, dann ging sie hinaus. Ich hörte sie den Polizisten fragen, ob er irgendetwas brauche, woraufhin ich mir noch schäbiger vorkam. Immer war Linda die Nette, die Brave. Ich war die schwarze Gewitterwolke. Ich war das Kind, das nicht durchschlief, nicht gefüttert werden wollte, unter Koliken litt und unserer Mutter während der Schwangerschaft Sodbrennen verursacht hatte. Und später, als Erwachsene, vergaß ich mich zu bedanken, kam immer zu spät und rief nie zurück. Meine Schwester vergaß niemals einen Geburtstag, und nie versäumte sie es, zur Beerdigung eines entfernten Verwandten Blumen zu schicken. Nicht nur, dass sie stets pünktlich war, nein, sie sah immer perfekt aus und hatte außerdem ein originelles Geschenk für die Gastgeberin dabei. Einer meiner Top-Ten-Hass-Sätze war: Deine Schwester ist ja so ein
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