Huete dich vor deinem Naechsten
meisten Männer hätten sich längst verzogen, verlegen und verärgert. Aber nicht Marcus. Er bekam, was er wollte. Und falls er warten müsste, würde er eben warten. So einfach war das, schon damals.
»Im Ernst«, sagte er, und zum ersten Mal hörte ich seinen Akzent heraus. »Wenn ich Sie umbringen wollte, hätte ich es längst getan.«
Darüber mussten wir beide lachen, und keine fünf Minuten später saßen wir zusammen in einem Taxi und rasten durch den kalten, nassen Abend.
Wir landeten im Café Orlin, einem dunklen, gemütlichen Laden im East Village, wo ich Stammgast war, und blieben bis in die frühen Morgenstunden. Wir verloren jedes Zeit-und Schamgefühl und erforschten gegenseitig unsere Vergangenheit, unterhielten uns über Bücher - hauptsächlich über meine Bücher, über die er beschämend viel wusste -, über Kunst, über das Reisen. Ganz unangestrengt und ungezwungen. Als wir das Lokal verließen, graute schon der Morgen. Es schneite nicht mehr. Er begleitete mich nach Hause. Er griff nach meiner Hand, und ich ließ es geschehen. Seine Haut war glatt und trocken, sein Griff fest und energisch, so als wären seine Knochen aus Metall. Als unsere Finger ineinander glitten, wurde mir heiß.
Vor meiner Haustür drehte ich mich zu ihm um. Ich wartete darauf, dass er »Ich rufe dich an« sagen würde oder »Danke für den netten Abend«. Irgendetwas Unverbindliches, wenig Aussagekräftiges, das mir später Grund zu der Annahme geben würde, der Abend sei wohl so besonders nicht gewesen.
»Können wir uns heute Abend sehen?«, fragte er. Wie bitte? Es gab Spielregeln, es galt, Schutzmauern zu errichten und Gleichgültigkeit vorzutäuschen! Ganz offensichtlich hatte er diese Regeln nicht gelesen.
Er musste meine Überraschung bemerkt haben. »Ehrlich, Isabel, ich habe keine Zeit für Spielchen.« Hörte ich Erschöpfung in seiner Stimme, trotz seiner freundlichen Augen und der sanften Hand an meinem Arm? »Tief in deinem Herzen weißt du doch längst, ob du mich wiedersehen willst oder nicht. Also sag es mir. Ich wäre dir nicht böse. Und falls du mich wiedersehen willst - sag einfach ja.«
Ich musste lachen. »Ja!«, sagte ich. »Ich möchte dich wiedersehen. Heute Abend.« Eigentlich hatte ich schon etwas vor - Abendessen mit Jack. Ich würde ihm absagen. Ich würde etwas verändern, mich anpassen, und diesen Mann in mein Leben lassen. Warum auch nicht?
»Ich hole dich um acht ab«, sagte er, nahm meine Hand und presste sie gegen seine Lippen. »Ich kann’s kaum erwarten.«
Er ließ mich wie betäubt im sanften Schein der Straßenlaternen stehen, lief bis zum Ende der Straße und bog um die Ecke, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich rechnete nicht damit, ihn wiederzusehen. Während ich die Treppe zu meinem Apartment hinabstieg, machte ich mich innerlich schon auf die Enttäuschung gefasst, die mich zweifelsohne erwarten würde.
Rick war in Handschellen zur Befragung abgeführt worden. Er hatte mich kein einziges Mal mehr angesehen, hatte nicht mehr mit mir gesprochen, obwohl ich ihm verzweifelt hinterher rief.
»Rick, bitte, erklär mir, was los ist!« Ich schaute ihm nach, bis er in Begleitung von zwei FBI-Agenten durch die Tür verschwunden war.
»Mrs. Raine, wir haben da ein paar Fragen an Sie«, sagte die Agentin mit den kurzen Haaren. »Sie werden hier warten müssen.« Sie packte mich am Oberarm und führte mich zu Marcus’ Schreibtisch.
Zugegebenermaßen verlor ich in dem Moment die Nerven. Ich tobte, verlangte nach Erklärungen, schimpfte über Marcus’ Verschwinden. Währenddessen betrachtete mich die große Blondine, als hätte sie nie eine bemitleidenswertere Frau gesehen. Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr und beruhigte mich.
»Setzen Sie sich, Mrs. Raine. Wir haben eine Menge zu bereden«, hatte sie gesagt. Viel Herablassung, wenig Erklärungen. Irgendwie fand ich sie seltsam. Außerdem machte sie einen wenig offiziellen Eindruck. Eigentlich sah sie mehr wie eine Stripperin aus, hübsch auf diese billige, ungepflegte Art. Es hätte mich kaum verwundert, hätte sie plötzlich einen Spagat gemacht und sich die Kleider vom Leib gerissen. Sie starrte mich unnötig lange an, stolzierte dann hochmütig hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Erschöpft und kraftlos ließ ich mich in den Sessel fallen und verfolgte durch die Glasscheibe, wie Computer abgebaut, Akten eingepackt und Schreibtischschubladen ausgekippt wurden. Nachdem die Agenten die Pistolen wieder
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