Huete dich vor deinem Naechsten
legte sie das Telefon auf den Küchentresen und schenkte sich noch einen Becher Kaffee ein. Brown beobachtete sie vom Sofa aus, wo er nicht hätte liegen dürfen.
»Runter vom Sofa, Brown!« Er kletterte beleidigt herunter und ließ sich seufzend auf dem Teppich nieder.
Eigentlich hatte sich Linda noch nie mit ihrer Mutter verstanden, obwohl die beiden sich liebten. Und es war auch nicht so, dass Margie irgendwelche Macken gehabt hätte. Sie war eine intelligente, verantwortungsbewusste Mutter gewesen, wenn auch nicht besonders zärtlich oder liebevoll. Margie hob selten die Stimme, niemals hatte sie die Mädchen geschlagen, und immer war sie da gewesen, wenn sie gebraucht wurde. Sie hatte Muffins für die Schule gebacken, bei Ausflügen die Begleitperson gespielt, bei den Hausaufgaben geholfen. Aber irgendwie stimmte die Chemie zwischen Margie und ihrer älteren Tochter nicht. Wären sie sich irgendwo begegnet, hätten sie einander nie als Freundinnen ausgesucht. Lindas Mutter behauptete, es sei von Anfang an so gewesen. Obwohl Linda ein liebes Baby war und sehr pflegeleicht, konnte Margie das Gefühl nie loswerden, das Kind lehne sie ab. Linda konnte sich nicht vorstellen, dass es so gewesen war. Die Behauptung erschien ihr lächerlich, typisch für ihre Mutter, eitel und narzisstisch. Letztendlich spielte die Frage, ob sie einander mochten oder nicht, keine Rolle, denn Margie war ihre Mutter. Und diese Beziehung musste nicht unbedingt auf Freundschaft beruhen. Obwohl beide hässliche Erinnerungen an die Zeit nach dem Selbstmord des Vaters hatten, liebten und akzeptierten sie einander heute. Meist reichte das aus.
Erik hatte die Kinder zur Schule gefahren, und Linda war mit Brown allein. Als die Tür ins Schloss fiel und alle Stimmen - normalerweise laut, lachend, albern, heute hingegen leise und gedämpft - mit dem Schließen der Aufzugtüren verstummten, konnte Linda endlich durchatmen. So ging es ihr immer, wenn die anderen das Haus verließen. Dann war sie keine Mutter und Ehefrau mehr, die fremde Bedürfnisse erfüllt, Gesichter abwischt, Pausenbrote schmiert, Fragen beantwortet, schimpft, delegiert, nervt, küsst, umarmt. Dann war sie nur noch sie selbst, dann konnte sie Kaffee trinken oder ins Badezimmer gehen, ohne dass ihr jemand hinterherrief. In dieser Zeit war sie am kreativsten - danach. Wenn sie wusste, dass die Kinder gut versorgt waren, konnte sie die Welt endlich so unbefangen betrachten, wie es für ihre Arbeit nötig war.
Nicht dass das Dasein als Mutter ihre Kreativität einschränkte, aber es hatte ein Labyrinth angelegt, das Linda durchqueren musste, wollte sie an jenen Ort der Konzentration in ihrem Innern vordringen. Und an jeder Ecke, hinter jeder Biegung lauerten Kobolde - Schuldgefühle, Sorgen, manchmal auch die pure Erschöpfung -, die sie aufhalten und niederringen wollten. Aber aus irgendeinem Grund war das Aufsuchen der inneren Energiequelle nach diesem Hindernislauf umso effektiver. Sie konzentrierte ihre gesamte Aufmerksamkeit und holte aus der kurzen Zeit das Optimale heraus. Sie wusste, dass der emotionale Reichtum ihres Lebens sie zu einer besseren Künstlerin gemacht hatte, dass die unbeschreibliche Liebe zu den Kindern sie stärkte. Aber das bessere Leben war nicht immer das einfachere.
Heute würde sie nicht arbeiten. Heute würde sie sich um Izzy kümmern, ihr zur Seite stehen. Was, wenn Marcus für immer verschwunden war? Nein, so etwas durfte sie nicht einmal denken.
Beim Gedanken an ihren Schwager kam Linda auch wieder der mysteriöse Anruf in den Sinn, von dem Izzy erzählt hatte. Linda spürte ein Flattern in der Magengegend. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihre Schwester allein losziehen zu lassen. Was, wenn ihre Sicherheit immer noch gefährdet war? Linda beschloss zu duschen und ihre Schwester zu suchen, egal, ob Izzy damit einverstanden war oder nicht. Sie warf einen Blick auf ihr Handy, das auf dem Tresen lag. Keine neuen Nachrichten. Sie war gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. Für derlei Unsinn hatte sie jetzt keine Zeit.
Sie nahm ihren Kaffee ins Badezimmer mit und stellte den Becher auf der Marmorfläche neben dem Waschbecken ab, ohne in den Spiegel zu sehen. Sie drehte den Warmwasserhahn auf, bis das Bad sich mit Dampf füllte. Sie wollte eben ihren Pyjama ausziehen und unter die Dusche steigen, als die Türglocke ging und Brown zu bellen anfing.
Linda lief zur Gegensprechanlage. Sie rechnete damit, auf dem kleinen Schwarz-Weiß-Monitor
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