Huete dich vor deinem Naechsten
kannte dieses Gesicht, es verriet eine überlegene Geduld. Wer war er?
»Er hat sie umgebracht?«
»Sie war die Einzige, die ihn mit dem echten Marcus Raine in Verbindung bringen konnte«, erklärte ich ganz ruhig. Kein Gefühl. Meine Stimme klang fremd. Ich stand auf und ging zur Handtasche.
»Was tust du da?«
Die Handtasche war eine billige Fälschung, deren Nähte schon aufplatzten. Ich wühlte darin herum. Ein knallrosa Handy, ein lila Portemonnaie mit Pailletten, zweimal Lipgloss, einmal Wimperntusche, eine Pinzette - und dann die Überraschung.
»Du hinterlässt überall deine Fingerabdrücke«, sagte Erik. Er steckte sich seine Hände vorsichtshalber unter die Achseln. Das Fernsehen hatte Experten der Spurensicherung aus uns gemacht.
»Weißt du, was sie an dem Abend, als wir euch von unserer Verlobung erzählten, über ihn gesagt hat?«
»Wer? Von wem sprichst du?«
»Von Linda«, antwortete ich, verärgert über seine Begriffsstutzigkeit. »Was sie über Marcus gesagt hat?«
Er schüttelte den Kopf und sah mich an, als könnte er sich unmöglich vorstellen, warum ich ausgerechnet jetzt damit anfing. Sein Blick fiel auf Camillas Leiche und verharrte dort, als könnte er jetzt, wo er sich zum Hinsehen gezwungen hatte, nicht mehr wegsehen.
»Sie hat gesagt, er sei wie unser Vater.«
Erik blickte mich überrascht an. Wir redeten niemals, ich meine niemals , über meinen Vater. So tief waren die Wunden, die er uns mit seinem Selbstmord zugefügt hatte.
»Wie hat sie das gemeint?«
Erik verdrehte die Augen und trat von einem Fuß auf den anderen wie ein nervöser Junge. »Izzy, lass uns verschwinden. Wir können im Taxi drüber reden.«
»Ich meine«, sagte ich, weil meine unterdrückte Wut auf Linda plötzlich in mir anschwoll wie eine unkontrollierbare Flutwelle, »mein Vater war ein netter, liebevoller Mann. Er war freundlich, warmherzig und immer guter Dinge. Er hat gestrahlt.«
»Ich weiß nicht, was sie gemeint hat. Ich kannte euren Vater nicht.«
»Sie muss es dir erzählt haben.«
»Isabel«, sagte er und packte mich an den Schultern, »hör - mir - zu! Wir müssen sofort hier raus, oder wir müssen die Polizei anrufen und denen alles erzählen. Eine Frau ist tot. Marcus war hier. Er wird gesucht. Er hat schreckliche Verbrechen begangen. Wir helfen ihm bei der Flucht.«
»O nein, der entkommt uns nicht, das verspreche ich dir. Obwohl er, zugegebenermaßen, einen kleinen Vorsprung hat.«
»Iz.« Erik kniff die Augen zusammen und packte mich noch fester. An seinem halb irritierten, halb verärgerten Blick erkannte ich, dass er dachte, ich stünde unter Schock und wäre verwirrt. Er hätte sich nicht mehr täuschen können. Noch nie in meinem Leben hatte ich alles so glasklar durchschaut. Oder zumindest kam es mir in dem Moment so vor mit meiner Kopfwunde, der Leiche am Boden und einem Mörder von einem Ehemann, der auf der Flucht vor der Polizei war.
»Sag mir, was du weißt, und dann ruf meinetwegen die Polizei an.«
»Du liebe Güte.« Erik ließ den Kopf hängen und seufzte. »Okay. Sie wollte damit sagen, dass seine Fassade nicht seinem Innenleben entsprach. Marcus hat dir nur eines seiner Gesichter gezeigt, aber genau wie bei deinem Vater sah es in seinem Herzen finster aus. Linda hat seine Kälte gespürt und gemeint, euer Vater sei ebenso kalt gewesen, auf seine Art. Obwohl er immer so nett und liebevoll gewesen sei, habe ein Teil von ihm große Angst vor Gefühlen, vor Intimität und echter Nähe gehabt. Ständig habe er den übermächtigen Drang verspürt, sich abzugrenzen, und wie kaputt er innerlich war, sei erst mit seinem Selbstmord ans Licht gekommen.«
Ich begann langsam zu nicken, während eine unendliche Traurigkeit in mir hochkroch. Linda sah unseren Vater und auch Marcus mit den Augen der Fotografin. Mein Schriftstellerhirn hatte zwei andere Männer gesehen, Männer, die ich mir selbst erschaffen und erklärt hatte.
Ich lehnte mich an Erik und ließ mich kurz umarmen.
»Erik, es tut mir leid«, schluchzte ich an seiner Schulter. Hinter seinem Rücken zog ich die kleine Überraschung aus Camillas Tasche, die ich immer noch in der Hand hielt. Sie fühlte sich kühl an und leicht wie ein Scherzartikel, wie in einem Traum.
»Du trägst keine Schuld«, sagte er. »Wir sollten jetzt den Anwalt und die Polizei rufen.«
»Doch, ich bin schuld und die Einzige, die es in Ordnung bringen kann. Andernfalls ist alles verloren - das Geld, meine Ehe, unsere Familie. Er hat uns
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