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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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betrat das Foyer. Schwarz-weiße Bodenkacheln, kühle Betonwände, milchig weißes Licht aus einem Fenster über dem ersten Treppenabsatz. Und jetzt, Superhirn?, dachte ich, während ich die zweite Tür aufdrückte.
    Ich spähte ins Treppenhaus hinauf, hörte eine Katze miauen und den frenetischen Applaus einer Game-Show, die in irgendeinem Fernseher lief. Irgendwo im Haus weinte ein Baby. Als ich die Treppe emporstieg, klopfte ich meine Taschen automatisch nach meinem Handy ab, weil ich an meine Schwester denken musste. Da fiel mir ein, dass ich keins mehr besaß. Ich hatte es liegen lassen. Plötzlich fühlte ich mich wie jemand, der mutterseelenallein und ohne Taschenlampe im Dunkeln steht - im Wald.
    Oben in Camillas Stockwerk legte ich eine kurze Pause ein, bevor ich langsam den Flur betrat. Durch eine zweiflüglige Milchglastür am hinteren Ende fiel körniges Licht ein. 4 A war die erste Tür auf der rechten Seite. Ich blieb davor stehen; sie war frisch gestrichen und schimmerte im Gegensatz zu den anderen, grauen Türen schwarz glänzend. Was sollte ich tun? Anklopfen? An der Tür lauschen? Ich wollte mich schon umdrehen und gehen, Eriks Rat befolgen und nach Uptown zum Anwalt fahren, aber da hatte ich schon eine Hand an den Türknauf gelegt und ihn gedreht, ohne mir etwas davon zu versprechen. Die Tür war nicht abgeschlossen, was, wie ich gleich wusste, nichts Gutes verhieß. Nichtsdestotrotz drückte ich sie weiter auf und betrat das Apartment. Ich kam mir vor wie ein Lemming an der Felskante.
    Drinnen herrschte Halbdunkel, die Jalousien waren geschlossen. Ich hörte ein Handy klingeln, hell und melodisch. Das Geräusch verstummte, dann setzte es wieder ein. Ich blieb wie angewurzelt stehen, eine Hand immer noch an der Tür.
    »Hallo?«, rief ich. »Camilla?«
    Das Handy klingelte nicht mehr, und ich vernahm nur noch gedämpften Straßenlärm. Das Apartment wirkte sehr sauber, die wenigen Möbel billig - beiges Sofa mit passendem Sessel, ein niedriger Sofatisch, auf einem Ständer am Fenster ein Fernseher älterer Bauart. Auf dem Boden ein großer, orientalischer Teppich, an den Wänden billig gerahmte Poster, eine graue Decke über einem Hocker. Das Handy begann wieder zu klingeln. Es musste in der Handtasche stecken, die neben einem Mantel auf dem Sofa lag.
    Ich bewegte mich auf die Geräuschquelle zu. In dem Moment entdeckte ich sie am Boden, mit zur Seite gedrehten Beinen. Ihr Blut färbte den Fußboden rot, war auf ihre Kleidung und an die weiße Wand gespritzt. In ihrem unglaublich bleichen Hals klaffte eine tiefe Wunde, so schwarz und grausig, dass es nicht echt aussah. Sie trug eine weiße Jeans und ein schmales, weißes, blutverschmiertes Hemd.
    Ich spürte einen dumpfen Schlag in meinem Körper, ein Kribbeln an meiner Kopfwunde, das durch meinen Schädel bis in mein Rückgrat wanderte. Ich versuchte, die Szene in allen Details wahrzunehmen, zu verstehen, was ich da sah. Aber alles drehte sich, und eine entsetzliche Übelkeit stieg in mir auf und der Wunsch zu fliehen. Dann bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung.
    »Isabel. Nicht umdrehen.«
    Aber ich drehte mich um. Und da stand er. Mein Geliebter, mein Freund, der Fremde, mit dem ich mein Leben geteilt hatte. Ich streckte unwillkürlich die Arme nach ihm aus, aber er wich zurück. Die Seile, die uns verbanden, waren gekappt. Er befand sich auf offener See, ich stand am Strand. Er war noch zu sehen, aber für immer verloren.
    »Warum tust du das?«, fragte ich, senkte den Blick und entdeckte den Revolver in seiner Hand. An seinen Händen und seinem Hemd klebte Blut.
    Selbst dieser Anblick jagte mir keine Angst ein. Ich hätte schreien, betteln, weinen sollen, stattdessen schien ich als Beobachterin über allem zu schweben - die Leiche am Boden, die Hände meines Mannes voller Blut. Er war mir äußerlich so vertraut, aber seine Seele blieb mir fremd. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu sagen: »Warum tust du das?«
    Als ich die Worte ausgesprochen hatte, zog sich mein Inneres vor Übelkeit zusammen. Ich starrte auf Camilla Novak hinunter und begriff die Endgültigkeit von allem. Eine Tür war zugefallen. Niemand von uns würde jemals wieder hindurchgehen. Immer noch stieg keine Wut in mir hoch, flossen keine Tränen, begann ich nicht zu schreien. Die Frau am Boden war tot. Und ich war eine Untote, bewegte mich steif und unnatürlich, denn man hatte mir meine Seele entrissen.
    »Darauf habe ich keine Antwort«, sagte er leise. »Du

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