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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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und auf der Fußmatte stehen ließ, die Treppe hinaufstieg und sich wieder hinlegte, war sie überzeugt, ihr Wille könne die Realität verändern. Sie hatte einen schweren Schock erlitten und lag wie betäubt im Bett, bis die Sonne aufging und Isabel sich regte. Sie erzählte ihrer Schwester von ihrem Traum.
    »Ein Traum kann dir nichts anhaben«, sagte Isabel.
    Dann Margies Schreie, ein entsetzliches, hohes Wimmern, das den Morgen zerriss und ihr Leben für immer veränderte.
    Warum sollte Linda darüber nachdenken? Wozu sollte das gut sein? Und doch konnte sie nicht anders, während ihre Kinder in einem Krankenhausbett in Freds Zimmer lagen und wie zwei ineinander verschlungene Äffchen schliefen. Trevor schnarchte leise. Hin und wieder seufzte oder stöhnte Emily. Fred war so bleich und still, dass sie ein paarmal aufgestanden war und sich über ihn gebeugt hatte, um seine flache Atmung zu kontrollieren.
    Inzwischen wäre Margie längst im Flieger oder auf dem Nachhauseweg. Linda hatte versprochen, bis zu ihrem Eintreffen im Krankenhaus zu bleiben. Die Kinder hatten nicht zu Eriks Mutter gewollt, und so hatte sie es ihnen so bequem wie möglich gemacht. Zu ihrer großen Überraschung waren die beiden sofort eingeschlafen.
    Linda saß auf einem bequemen Stuhl und starrte auf den von einer Reihe hässlicher, orangefarbener Lampen beleuchteten Parkplatz hinaus. Die Nacht war sternenlos, der Mond nicht zu sehen. Eine weitere Nacht ohne Schlaf. Sie würde Wache halten und die Neuigkeiten, wie immer sie aussehen mochten, allein entgegennehmen. Von Erik hatte sie seit Stunden nichts mehr gehört. Sie wusste, dass sein Handyakku leer war, denn alle Anrufe wurden sofort auf die Mailbox umgeleitet. Als er das Krankenhaus verlassen hatte, war der Akku schon ziemlich am Ende gewesen. Er hatte das Handy ihrer Schwester dabei, aber auch das antwortete nur mit Isabels beschwingtem »Sprechen Sie nach dem Piepton, ich rufe Sie zurück«. In Lindas Brust machte sich Angst breit, und Sorge nagte an ihren Eingeweiden. Wo waren sie?
    Die neue Angstattacke trieb sie auf den Krankenhausflur hinaus, um Ben anzurufen. Sie fürchtete nicht, ihn zu stören oder das Misstrauen seiner Frau zu erregen. Falls es ihm gerade nicht passte, würde er den Anruf einfach nicht annehmen, das wusste sie. Aber er antwortete nach dem ersten Klingeln.
    »Hey«, sagte er. Seine Stimme hörte sich weich und warm an, der Klang allein trieb ihr die Tränen in die Augen. Hatten sie sich erst heute Morgen getroffen, um in einer öffentlichen Toilette zu vögeln? Hatte sie sich nicht vorgenommen, ihn nie wiederzusehen?
    »Hey«, flüsterte sie und schaute sich um. Der Flur war menschenleer. Irgendwo dudelte ganz leise »Stille Nacht« aus einem Radio. »Bist du allein?«
    »Ja«, sagte er knapp. »Alles okay?«
    »Ehrlich gesagt nicht«, sagte sie und lehnte sich an die Wand. »Überhaupt nicht.«
    »Erzähl.«
    Sie warf einen Blick auf die Wanduhr über dem leeren Schwesternzimmer. Es war spät, fast zehn.
    »Wo ist deine Familie?«, fragte sie. Einmal hatte sie am Telefon mit ihm geflirtet und anzügliche Ausdrücke benutzt, als sie plötzlich von seiner kleinen Tochter unterbrochen wurden, die um Milch bat.
    »Daddy, Tasse Milch?«, hatte eine süße Stimme gefragt. Die Kleine war erst zwei und fing gerade an, Wörter nach Belieben zu kombinieren.
    In dem Moment hatte Linda sich selbst gehasst, sich schmutzig und lächerlich gefühlt. Das wollte sie kein zweites Mal erleben. Eine Sekunde lang schwieg er, und sie dachte, die Verbindung sei unterbrochen worden. Dann hörte sie ihn atmen und musste daran denken, wie sein Atem sich am Morgen auf ihrer Haut angefühlt hatte.
    »Alle sind zu Hause«, antwortete er. Dann: »Ich nicht.«
    »Wo bist du?«
    »Ich bin ausgezogen«, sagte er mit Grabesstimme.
    Sie erinnerte sich an sein Gesicht im Coffeeshop. So traurig und verloren.
    »Ben.«
    »Linda, ich weiß. Du musst es mir nicht sagen.«
    »Ich kann nicht«, begann sie, »ich fühle nicht …«
    »Ich weiß«, sagte er. Klang er gereizt? Wütend? Als er weitersprach, war der Unterton verschwunden. »Darum geht es gar nicht. Ich konnte. Ich empfinde genug für dich, um meine Frau und meine Kinder zu verlassen. Und das ist niemandem gegenüber fair, oder?«
    Sie legte sich eine Hand an die Stirn. Warum fragten sich alle ständig, was fair war? Was war fair daran zu leben, zu heiraten, Kinder in die Welt zu setzen? Seit wann war das Glück der Heilige Gral? War es

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