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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Sternen.«
    Sie rannte durch den Garten, und der Tau auf dem Gras durchnässte den Stoff ihrer Schuhe. Neben dem Haus, hinter sich, hörte sie es rumpeln und krachen. Die Waschbären befanden sich wieder in der Garage. Margie würde ausflippen. Linda würde es ihrem Vater erzählen, und dann würden sie sich schlapplachen. Auch das teilten sie - eine hämische Schadenfreude, wann immer Margie »im Dreieck sprang«. Damals hätte Linda nicht erklären können, warum das so war. Aber wann immer die kühle und sonst so beherrschte Margie fluchte und tobte, weil die Mülltonne umgekippt, wieder einmal dieselbe Sicherung durchgebrannt oder die Schranktür aus den Angeln gefallen war, tauschten Linda und ihr Vater heimlich ein Lächeln aus.
    »Konntest du nur auf diese Weise zu deinem Vater in Kontakt treten, über die geteilte Verachtung für deine Mutter?«, hatte Erik sie einmal gefragt. Linda fühlte sich ertappt, sie schämte sich.
    »Verachtung ist nicht das richtige Wort.« Sie klang wie Isabel.
    »Was dann?«
    »Ich weiß es nicht. Es war befreiend, wenn sie mal die Fassung verlor. Es fühlte sich an wie … oh, sie ist auch nur ein Mensch! Und kein auf Perfektion programmierter Roboter. Es gefiel uns, weil wir … weil wir manchmal diese Schwächen an ihr sehen wollten, die jeder Mensch hat.«
    »Hmm«, sagte Erik, »so steif und roboterhaft finde ich sie gar nicht. Ich finde sie lustig und warmherzig.«
    »Weil sie nicht deine Mutter ist.«
    »Touché.«
     
    Linda hatte vorsichtig an die Tür geklopft. »Dad? Daddy?«
    Sie rechnete damit, ihn aufrecht dösend an der Werkbank vorzufinden, einen Ellbogen auf der Tischplatte, das Kinn in der Faust, die Augen geschlossen. Oder vielleicht wäre er so in seine Arbeit versunken, dass er sie nicht hereinkommen hörte. Aber dann würde er sie entdecken und lächeln.
    »Hallo, Mondenschein«, würde er sagen, »setz dich.«
    Und dann hätte sie ihn ganz für sich allein. Der Tag gehörte Izzy. Immer wanderte sein Blick zuerst zu Isabel; über ihre Witze lachte er am lautesten, und nie wurde er müde, ihre Hand zu halten oder ihr übers Haar zu streichen. Nicht dass er das nicht auch bei Linda getan hätte. Aber irgendwie fühlte sie sich wie die zweite Wahl, selbst wenn - oder vielleicht gerade weil - er es nicht so meinte.
    Sie stieß gegen die Tür, die langsam und mit einem traurigen Knarren aufschwang. Ein unbekannter Geruch kitzelte ihre Nase - metallisch, irgendwie süßlich. Die Szene nahm sie als Aneinanderreihung von Schnappschüssen wahr: eine brennende Zigarette im Aschenbecher, eine fast leere Schnapsflasche und ein umgekipptes Glas, ein gefrorenes, hämisches Lächeln, ein dunkler Fleck auf einem weißen Hemd, eine Pistole auf dem Boden. Alles existierte für sich allein, nichts hing miteinander zusammen. Es war zu dunkel, um das Blut zu erkennen. Er hatte sich die Pistole unters Kinn gehalten, ein unsicherer Weg, sein Leben zu beenden. Besser wäre die Schläfe gewesen, dort ist die Trefferquote höher.
    Sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Zigarette. Nie hatte sie ihren Vater rauchen sehen; es kam ihr wie ein Verrat vor, wie sein schmutziges Geheimnis. Sie ärgerte sich darüber. Woran sie aber noch Jahre später dachte, wovon sie träumte, war dieses Lächeln. Niemals hatte sie diesen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen, dieses verächtliche Grinsen, das nichts anderes ausdrückte als: Die ganze Welt kann mich mal. Vielleicht hatte ihr Vater immer schon so gelächelt, vielleicht war jetzt bloß die Maske gefallen.
    Linda sah rot, eine Woge aus Todesangst und Zorn überrollte sie. Es fühlte sich an wie ein Krampf; damals verstand Linda diese Gefühle noch nicht, während das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Sie war damals kaum älter als Emily heute, in vielerlei Hinsicht sogar jünger, weniger altklug, behüteter. Nichts und niemand hatte sie auf den Anblick vorbereitet, der sich ihr bot; die Szene war so unbegreiflich, dass Linda kaum etwas erkannte. Am nächsten Morgen fand man Erbrochenes an der Schuppentür; nur dadurch stellte sich heraus, dass Linda ihn zuerst gesehen hatte. Sie erinnerte sich an eine überwältigende Taubheit, an eine Art innerlichen Kurzschluss.
    Ein Traum, sagte sie sich . Ich mache die Tür zu und lege mich wieder ins Bett. Morgen früh habe ich alles vergessen.
    Sie redete sich das voller Überzeugung ein. Als sie den Weg durch den Garten zurücklegte, durch die Hintertür ins Haus schlich, die nassen Schuhe abstreifte

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