Huete dich vor deinem Naechsten
zu stören.«
Er schien noch eine Weile darüber nachzudenken, während er an einem losen Faden seiner Jeans herumzupfte.
»Das ist doch dumm«, sagte er dann enttäuscht.
Und plötzlich ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich seine Hoffnung zerstört hatte, eines Tages vielleicht nicht an dem zu erwartenden Tag aufzuwachen. Ich hätte zugeben können, dass er möglicherweise recht hatte und ich tatsächlich nicht wusste, was für immer passieren würde. Ich ruderte zurück.
»Weißt du, Trevor, jeder Tag ist anders. Überraschungen und magische Momente können sich jederzeit einstellen.«
Er nickte schnell, als hätte er das in seinem Alter längst gewusst.
»Aber nur mittwochs«, meinte er ernst. »Oder montags.«
Eigentlich hatte ich Emily immer für das poetischere der beiden Kinder gehalten, aber vielleicht hatte Trevor tatsächlich etwas von einem unverstandenen Dichter in sich. Er war stets bemüht, die Welt seiner Wahrnehmung anzugleichen und Sternenstaub zu sehen, wo nur Asche war.
»Komm, Trev, wir holen uns Pommes und einen Milchshake«, sagte ich.
Seine Miene hellte sich auf, so als hätte das Gespräch nie stattgefunden. Nur Kinder haben diese Gabe, die Fähigkeit, sich durch Kleinigkeiten von ganz großen Problemen ablenken zu lassen.
Seltsam, dass einem in den schlimmsten Momenten die albernsten Dinge einfallen. Ich hätte Marcus nachlaufen können, ließ es aber bleiben. Ich verharrte für unbestimmte Zeit wie angewurzelt auf der Stelle, wie gelähmt vom Anblick der Toten und der Begegnung mit Marcus. Dieser Augenblick ließ sich unmöglich mit dem Leben vereinbaren, das ich bis vor wenigen Tagen geführt hatte.
Ich kniete neben der Frau nieder, die ich anhand des Fotos, das Detective Crowe mir gezeigt hatte, als Camilla Novak identifizieren konnte, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ich hatte eben noch mit ihr telefoniert; es konnte nicht sein, dass sie tot war. Ich fragte mich, ob sie vielleicht noch atmete, so wie Fred. Bei ihm hatte ich im ersten Moment auch geglaubt, er sei tot, weil er so blass ausgesehen und viel Blut verloren hatte. Aber nein, Camilla lag völlig reglos und unnatürlich steif da.
Ich wollte nicht einfach nur wissen, ob sie tot war, ich berührte sie noch aus einem anderen, weniger hehren Grund. Ich wollte wissen, wie diese unglaublich weiße Haut sich wohl anfühlte. Sie stieß mich kein bisschen ab.
Ihre Haut fühlte sich an wie Tonerde, und ich spürte, wie die Wärme aus ihr wich. Was verlieren wir, wenn das Herz das Blut nicht mehr durch die Adern pumpt, wenn die Lungen sich nicht mehr füllen, wenn jemand abtritt und eine leere Bühne hinterlässt? Der Vorhang bleibt offen, aber das Licht geht aus. Was ist das? Es musste doch mehr sein als das Versagen einer Maschine, oder?
»Die meisten Leute ergreifen die Flucht, wenn sie eine Leiche sehen, und zwar panikartig«, würde Detective Crowe später sagen. »Nur im Film bücken sich Leute zu einem Menschen mit durchschnittener Kehle in einer Blutlache hinunter, um herauszufinden, ob er noch lebt. Die meisten fallen sofort in Ohnmacht oder müssen sich übergeben, wenn sie so viel Blut sehen.«
»Ich bin nicht die meisten Leute.«
»Das habe ich verstanden.«
Aber das kam erst viel später.
»O mein Gott!«
Ich drehte mich erschrocken um und entdeckte Erik im Türrahmen. Er sah schockiert aus, wandte sich um und wankte in den Flur hinaus.
»Mach die Tür zu«, sagte ich energisch, »schließ ab!«
»Isabel, wir müssen hier raus«, sagte er mit einem Blick über die Schulter. »Wir gehen jetzt sofort zum Anwalt. Was tust du da?«
»Verdammt, Erik!«, zischte ich. »Komm rein und mach die Tür zu.«
Er zögerte, wollte im sicheren Flur bleiben, und folgte schließlich doch meiner Aufforderung.
»Izzy, wer hat das getan? Hast du …?«
»Ich?« Ich starrte ihn ungläubig an. Mit den aufgerissenen Augen und dem verkniffenen Mund sah er wie Trevor aus.
Er hob beide Hände. »Wer dann?«
Ich warf einen Blick auf Camilla Novak, auf ihre langen, schlanken Gliedmaßen, den Spitzen-BH. Auf dem Sofatisch stand eine halb volle Teetasse mit einem Lippenstiftabdruck. Ihr Mantel und ihre Handtasche lagen auf dem Sofa. Wahrscheinlich wollte sie gerade los, als Marcus kam. Sie hatte ihn hereingelassen, und dann hatte er sie ermordet.
»Marcus war hier«, sagte ich.
»Du hast ihn gesehen? Hier ?«
Ich nickte und musste an Marcus’ Gesicht denken. Er hatte weder böse noch wütend ausgesehen. Ich
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