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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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hilflos und aggressiv zugleich. Er kannte diese Frauen und fragte sich, ob sie ein rein städtisch-amerikanisches Phänomen waren - Frauen jenseits der vierzig, dürr und mit herben Gesichtszügen, als quälten sie sich pausenlos mit exzessivem Körpertraining. Ihre kleinen Brüste waren flach und hart, die Fingernägel eckig gefeilt und dunkel lackiert. Oftmals benahmen sie sich unhöflich und grob, als stellte ihre schlanke Figur einen Freifahrtschein für schlechtes Benehmen dar. Aber trotz der Selbstkasteiung, der Hungerkuren und des übertriebenen Sports erschienen sie ihm so unattraktiv, dass er sie geradezu abstoßend fand. Letztlich waren sie einsam, unglücklich, unzufrieden - und dementsprechend verbittert und boshaft.
    Grady Crowe war der Ansicht, die amerikanischen Frauen hätten sich auf ein Lebensmodell eingelassen, das nicht aufging. Verbringe jede freie Minute damit, über deinen Körper zu klagen, suggerierten die Medien, treibe Sport, kauf Diätratgeber, style dich, putz dich raus, zupfe, enthaare, dann findest du einen Mann, der dich attraktiv findet und bis an dein Lebensende liebt. Verschwende keinen Gedanken daran, nett oder liebenswert zu sein, gütig oder auf spiritueller Ebene erfüllt. Bemühe dich, so wenig Raum wie möglich einzunehmen, mache dich so klein wie es geht, andernfalls wirst du von allen, die Geld an dir verdienen wollen, geschmäht und lächerlich gemacht werden - von Sportgeräteherstellern, Buchverlagen, sogar von der Pharmaindustrie. Sie werden dir dein Geld und dein Selbstwertgefühl rauben. Du wirst ihnen alles in den Rachen schmeißen und doch unglücklich sein. Obwohl alles dagegen sprach, machten sie sich diese Vorstellungen zu eigen, waren davon überzeugt, bauten ihr Leben und ihren Lebensstil darauf auf.
    Das Geschnatter hörte nicht auf; Grady konnte nicht mehr denken. Er starrte auf Camilla Novaks Leiche hinunter, wollte sich in die Situation einfühlen, wollte alle Details aufnehmen, aber es klappte nicht. Erik Book saß auf dem Sofa, den Kopf auf die Hände gestützt. Er hatte versucht, sein Handy zu benutzen, und schließlich entnervt aufgegeben. Er sah beklagenswert aus. Grady fragte sich, wie es wohl sein mochte, fünfhundert Riesen einfach so aufs Spiel zu setzen; er konnte wenig Sympathie für Eriks Verlust aufbringen. Er überlegte, ob der Kerl ahnte, dass seine Frau ihm Hörner aufsetzte. Er sah es ihr an, sie war ruhelos, zutiefst unzufrieden.
    Im Rückblick erkannte er es auch bei Clara; auch sie hatte irgendwann aufgehört, ihn anzusehen. Kaum wahrnehmbar war ihr Widerstand, sich umarmen zu lassen, unauffällig zog sie ihre Hand aus seiner, wenn sie draußen unterwegs waren. Er hatte die Abkühlung als normal empfunden und den vielen gemeinsamen Jahren zugeschrieben. Eine weitere Fehleinschätzung. Wie seine Idee, zunächst zu Charlie Shanes Dreckloch von Einzimmerwohnung zu fahren und nicht zu Camilla Novak, was Jez vorgeschlagen hatte. Wären sie früher hergekommen, hätte Camilla vielleicht noch gelebt. Hatte er kein Bauchgefühl mehr? In letzter Zeit unterlief ihm ein Fehler nach dem anderen.
    Er griff nach Camillas Hand, schätzte das Gewicht, konnte die zarten Knochen durch den Handschuh fühlen. Er betrachtete einen blassblauen Fleck, ein Stempel von einem Klub. Er konnte den Namen kaum entziffern. The Topaz Room. Hatte er nie gehört. Er zog seinen Communicator heraus, öffnete den Browser und gab den Namen in die Suchmaschine ein. Er fand einen Eintrag für Queens, legte ein Lesezeichen an und steckte das Handy wieder ein.
    Noch mehr Geschnatter, noch lauter, noch irritierender. Er stellte sich zum Team von der Spurensicherung; alle drehten sich zu ihm um.
    »Wir haben hier eine Tote, bitte erweisen Sie ihr ein wenig Respekt.« Eine der Gänse hob ihr hageres Gesicht.
    »Detective, die kann uns nicht mehr hören«, sagte sie schnippisch.
    »Aber ich. Würden Sie bitte leiser sein?«
    Es war nicht ungewöhnlich, dass Mitarbeiter am Tatort lachten, herumalberten und krude Kommentare über das Opfer abgaben. Man sah es als Methode der Ermittler an, mit dem täglichen Horror umzugehen. Grady missfiel das, ganz besonders im Apartment einer hübschen jungen Frau. In der Bronx, wo sich die Verbrecher gegenseitig über den Haufen schossen, war es etwas anderes. Aber eine Frau wie Camilla, die sich in der großen Stadt allein durchschlug, arbeiten ging, erinnerte ihn an seine Schwestern. Sie hatte Respekt verdient, und er würde dafür sorgen, dass

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