Hueter der Daemmerung
sie immer getragen hatte, war von ihrem Hals verschwunden. Obwohl sie deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht über das Vorgefallene reden wollte, spürte Seb ihren Zorn, ihren tiefen Schmerz.
Der Zug ruckelte, und Willow griff kurz nach seinem Arm, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann lächelte sie ihn entschuldigend an. An eine Unterhaltung war wegen des Krachs nicht zu denken. Sie trug Make-up, was sie sonst nie tat. Es machte sie älter, aber nicht schöner. Als Seb zurücklächelte, wünschte er, er hätte das Recht, den Arm um sie zu legen. Nur so, aus keinem bestimmten Grund, um sie dicht neben sich zu spüren. Alex, der das Recht gehabt hatte, schien es so wenig zu bedeuten, dass er willens war, mit Willow Schluss zu machen, bloß weil sie mit ihm, Seb, befreundet war. Dafür hätte Seb ihn mit Freuden erwürgt. Im Geist schüttelte er ungläubig den Kopf. Gott, wenn Willow seine Freundin wäre, wenn er so mit ihr zusammen sein könnte, wie er es sich ersehnte … wenn er mit ihr in ein Zimmer gehen und die Tür hinter sich zumachen könnte, um ihr zu sagen, was er für sie empfand, mit Worten, mit seinen Lippen … Zu hören, wie sie dasselbe erwiderte, während sie ihre Finger durch seine Haare flocht – dann wäre es ihm, zum Teufel noch mal, vollkommen egal, mit wem sie befreundet wäre. Konnte das überhaupt irgendwer, der noch richtig tickte, anders sehen? Ganz gleich, wie viel er Willow bedeutete, sie würde Alex niemals betrügen, niemals. Wusste der cabron das denn nicht?
Inzwischen war Seb sehr geübt darin, Gedanken wie diese tief in seinem Inneren zu begraben. Während er sich damit vergnügte, sich zusammenzufantasieren, wie er Alex beiseitenahm und ihm in allen Einzelheiten auseinandersetzte, was für ein Idiot er war – vielleicht ergänzt durch den einen oder anderen Fausthieb, um der Sache den nötigen Nachdruck zu verleihen -konzentrierte er sich vordergründig auf seine Umgebung: den U-Bahnwaggon, die Reklame, die Leute. Willow hätte herausbekommen können, was er dachte, wenn sie es versucht hätte. Aber er wusste, dass sie das nicht tun würde. Von Anfang an war es, als hätten sie eine Vereinbarung getroffen: er würde sich nicht allzu deutlich anmerken lassen, dass er in sie verliebt war, und im Gegenzug würde sie so tun, als bemerke sie es nicht.
Der Zug ratterte durch die Tunnel. Seb nahm an, dass er sich freuen sollte, dass Willow und Alex sich getrennt hatten. Doch es war offensichtlich, wie sehr sie sich immer noch liebten. Selbst quer durch den überfüllten Waggon konnte er die emotionalen Bande spüren, die sie miteinander verknüpften. Er war sicher, dass es ihnen schon bald gelingen würde, ihre Beziehung wieder zu flicken. Doch bis dahin war Willows Schmerz für Seb eine Qual, sodass er sich in einer bizarren Situation wiederfand: Zu gerne hätte er Alex zur Vernunft geprügelt, so lange, bis er sich wieder mit ihr vertrug. Seb lächelte schief. Er hätte es nie für möglich gehalten, aber Willows Glück bedeutete ihm mehr als sein eigenes.
Er war allerdings auch kein Heiliger. Hin und wieder musste er sämtliche Kräfte aufbieten, damit er Willow nicht einfach in seine Arme zog und anfing, sie zu küssen. Und er betete mit aller Macht dafür, dass sie bald über Alex hinwegkäme und endlich erkannte, was aus seiner Sicht sogar ein Blinder erkennen konnte. Denn wenn er an ihren Traum zurückdachte – an die ganze Abfolge von Ereignissen, die ihn zu ihr geführt hatten, und schon Jahre vorher in seinem Leben ihren Anfang genommen hatten – dann konnte Seb einfach nicht glauben, dass das Schicksal sie zusammengebracht hatte, bloß damit sie Freunde wurden. Für ihn war es klar, dass er und Willow füreinander bestimmt waren. Und das nicht nur, weil sie beide Halbengel waren, sondern auch aufgrund ihrer Persönlichkeiten. Es schien, als hätten ihre Seelen sich ihr ganzes Leben lang nacheinander verzehrt.
Seb wusste, dass er irgendwie damit fertig werden würde, sollte Willow niemals das Gleiche empfinden. Ihr ein Bruder zu sein war besser als nichts. Es wurde allerdings mit jedem Tag schwerer. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er sich noch mehr in sein Halbengel-Mädchen verlieben könnte. Aber leibhaftig mit Willow zusammen zu sein, die unangestrengte, tiefe Verbundenheit zwischen ihnen zu spüren, die anders war als alles, was er je erlebt hatte … Zu wissen, dass noch so viel mehr daraus werden könnte, dass sich ihnen ganz neue
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