Hueter der Daemmerung
Welten erschließen könnten, wenn sie nur die Augen aufmachen und das auch erkennen würde … Seb stieß die Luft aus, als der Zug langsamer wurde. Er war sich nicht sicher, ob es die Sache besser oder schlimmer machte, dass er hin und wieder zu spüren meinte, dass sie seine Gefühle erwiderte. Der Eindruck war stets so flüchtig, als entzöge er sich ihrer Kontrolle. In Anbetracht der Tatsache, dass sie Alex so sehr liebte, fand er, dass es die Sache alles in allem eher verschlimmerte. Auf jeden Fall fiel es ihm dadurch schwerer, sich ihr gegenüber wie ein Bruder zu benehmen.
Doch genau das wirst du tun, sagte er sich. Bis sie dir sagt, dass sie etwas anderes will, bist du lediglich ihr Bruder. Er schaute auf Willows rotgoldenes Haar hinunter, auf ihr Gesicht. Eines Tages wird sie es von selbst erkennen, dachte er. Sie muss es erkennen.
Sie muss.
Der Zug erreichte die Station Zócalo, mit einem pneumatischen Zischen öffneten sich die Türen. »Ich schätze, da wären wir«, murmelte Willow. Beklommen runzelte sie die Stirn.
»Da wären wir«, stimmte Seb zu und schob seine Gedanken fort. Sie drängten sich aus dem Wagen. Alle Welt schien zum Zocalo unterwegs zu sein. Alex und die anderen waren weiter hinten ausgestiegen, an der Treppe nach oben trafen sie wieder zusammen. Als sie die Stufen erklommen, konnten sie lautstarke Sprechchöre hören: »El DF verreckt! Geld für Ärzte, nicht für Engel! El DF verreckt! Geld für Ärzte, nicht für Engel!«
Die Aktivisten-Demo, schlussfolgerte Seb. Als sie auf den Zocalo herauskamen, konnten sie sie sehen – eine dichte Menschenmenge hatte sich in der Nähe des Palacio versammelt. Die Demonstranten schüttelten die Fäuste, während sie ihre Sprechgesänge skandierten. Ihre Auren waren blutrot. Sie flossen ineinander und loderten himmelwärts, sodass die Masse wie ein einziges zorniges Wesen aussah. Seb blieb wie angewurzelt stehen, in seinem Nacken kribbelte es. Er hatte solche Auren schon gesehen – üblicherweise kurz vor einem Kampf zwischen zwei Straßengangs. Aber noch nie bei Tausenden von Menschen auf einmal.
Nicht weit davon hatten sich mehrere Hundert Leute, die Engelsflügel trugen, zusammengefunden und brüllten genauso wütend: »Die Engel werden für alles sorgen! Ihr müsst nur den rechten Glauben haben. Die Engel werden für alles sorgen!« Obwohl ihre Auren überwiegend beschädigt waren, erglühten sie ebenfalls in einem wütenden Rot und reckten sich den Aktivisten entgegen. Mehrere Dutzend Sicherheitsleute patrouillierten mit grimmiger Miene am Rand der Menschenmenge entlang, während über ihren Köpfen Engel mit glitzernden Flügeln ihre Kreise zogen.
Willow warf Seb einen schnellen Blick zu. Ihre grünen Augen wirkten durch den Eyeliner, der sie betonte, größer als sonst. »Das ist ja gar nicht gut«, flüsterte sie ihm zu und er wusste, dass sie eher die brodelnden Auren meinte, als die jagenden Engel. Mit Sicherheit spürte sie die Schwingungen, die von den Demonstranten ausgingen, genau wie er – die organisierte Wut, die rund um sie herum aufbrandete.
»Es wird alles gut gehen«, murmelte er zurück.
»Haben wir davon gewusst?«, fragte Sam, der die Szenerie stirnrunzelnd betrachtete.
Seb verdrehte genervt die Augen. Sam hatte es zusammen mit den anderen in den Nachrichten gesehen, als er, Seb, am Vortag mit Willow zusammen nach Hause gekommen war. »Ja, wussten wir«, erwiderte Alex lapidar und ging voraus in Richtung Kathedrale. »Es betrifft uns nicht.«
Außer, dass das nicht stimmte.
Als sie sich der Catedral de los Angeles näherten, konnten sie lange Schlangen sehen, die sich vom Eingang bis zum Sakramentshaus erstreckten und nur träge vorwärtskamen. »Da stimmt doch was nicht – die Türen sollten mittlerweile geöffnet sein«, sagte Kara. »Alex, ich gehe mal eben schauen, was da los ist.« Bevor er etwas erwidern konnte, war Kara schon losgerannt. Die langen Zöpfchen ihrer Perücke, die ihr über den Rücken hingen, hüpften auf und ab.
Beunruhigt sah Alex zur Kathedrale hinüber. »Also los, Leute«, sagte er dann. Er griff in die große Plastiktüte, die er bei sich trug, und verteilte Engelsflügel. Als er Seb ein Paar übergab, trafen sich ihre Blicke – Seb bemerkte die gezügelte Abneigung in Alex’ Augen. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Alex reichte Willow ein lavendelfarbenes Flügelpaar. Er wich ihrem Blick aus. Auch Willow schaute ihm nicht in die Augen, sondern nahm die Flügel nur stumm
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