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Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. A. Weatherly
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tat, weswegen er gekommen war. Und außerdem konnte dies ja auch der Ort sein, an dem er sie tatsächlich endlich fand.
    Seb konnte nicht verhindern, dass ihn ein Gefühl der Erwartung durchzuckte, scharf und schmerzhaft. Hoffnung, die er niemals völlig begraben konnte. Er verließ die Straße und warf sich bäuchlings ins Gras, mit Blick auf das Waisenhaus unter ihm. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ausschließlich auf sein anderes Ich.
    Er schwebte talabwärts auf das heruntergekommene Gebäude zu. Seine breiten Flügel funkelten in der Dämmerung. Beinahe mühelos glitt er durch eine Wand des Waisenhauses und flog nach drinnen. Seine Muskeln verkrampften sich unwillkürlich, wie immer, wenn er in eine dieser Einrichtungen kam. Die ungebetene Erinnerung an das Zimmer, dessen undurchdringliche Dunkelheit wie ein schweres Gewicht auf seinem fünfjährigen Ich gelastet hatte, kehrte zurück. Im Nachhinein hatte sich der Raum als Segen erwiesen – denn dort war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, was er eigentlich war. Es war das Einzige gewesen, das ihn davor bewahrt hatte, durchzudrehen.
    Niemand sah Sebs zweite Gestalt, die lautlos von Zimmer zu Zimmer glitt. Er erkannte sofort, dass dieses Waisenhaus zu den wenigen zählte, die nicht allzu schlimm waren – es war sauber, wenn auch deprimierend kahl und nüchtern. Und nachdem er den Speisesaal gefunden hatte, in dem alle mit den Erziehern beim Abendessen zusammensaßen, stellte er fest, dass die Auren der kleinen und großen Kinder ganz gesund aussahen. Sie zeugten eher von Langeweile, als von schlechter Behandlung. Während Seb über ihnen kreiste und ihre Energiefelder überprüfte, registrierte er sämtliche Farben: ein stumpfes Blau; ein flimmerndes, lebhaftes Rosa; ein sanftes Grün. Nicht eine Aura enthielt auch nur eine Spur von Silber, aber das musste nicht unbedingt etwas heißen. Er selbst hatte schon als Kind seine Aura verändert. Während er sich eine nach der anderen vornahm, öffnete er seine Sinne und prüfte, wie sich die Energien anfühlten – es war fast wie ein Lauschen. Sein ganzes Wesen schien vor atemloser Spannung zu vibrieren, als er jedes Energiefeld mit seinem eigenen in Berührung brachte. Sie waren alle durch und durch menschlich.
    Er überprüfte sie ein weiteres Mal, nur um sicherzugehen, aber er war nicht mehr mit dem Herzen dabei. Dann zwang er sich, auch die anderen Räume zu inspizieren, obwohl er bereits im Voraus wusste, dass er dort niemanden finden würde. Was sich als richtig erwies.
    Hier war sie also auch nicht.
    Die Enttäuschung schnürte ihm die Kehle zu. Seb öffnete die Augen, holte sein anderes Ich aus dem Waisenhaus zurück und lag reglos da.
    Sie. Er schnaubte leise. Er wusste ja nicht einmal, ob es überhaupt andere seiner Art gab. Noch viel weniger, welches Geschlecht sie haben mochten. Und doch war er immer überzeugt davon gewesen, dass es ein ungefähr gleichaltriges Mädchen war, nach dem er suchte. Das Gefühl ihrer Gegenwart war so stark. Und obwohl er keine Ahnung hatte, wie sie hieß oder wie sie aussah, kannte er sie. Seit er denken konnte, spürte Seb den Geist des Mädchens; spürte, wer sie war. Er glaubte sogar manchmal, sie lachen zu hören oder einen Blick auf ihr Lächeln zu erhaschen. Dass er nicht in der Lage war, sie wirklich zu sehen oder zu berühren, schmerzte ihn unaufhörlich.
    Grob fuhr sich Seb mit beiden Händen durch das Haar. Warum hatte er sich nicht mittlerweile an die Enttäuschung, sie nicht zu finden, gewöhnt? Wie viele Städte hatte er abgesucht? Wie viele Waisenhäuser und Schulen? Wie viele Meilen war er wie viele Straßen entlanggewandert? Plötzlich war er müde, so schrecklich müde. Irgendwie kam es ihm so vor, als würde ihm dieser letzte Misserfolg den Rest geben.
    Es wird nie passieren, dachte Seb. Ich habe sie mir all die Jahre lang nur eingebildet, weil ich mir so sehr gewünscht habe, dass es wahr wäre.
    Er rollte sich auf den Rücken und beobachtete seinen Engel, der mit weit ausgebreiteten, schneeweißen Flügeln vor dem Nachthimmel dahintrieb. Doch ausnahmsweise vermochte das Gefühl des Fliegens ihn nicht zu trösten. So lange hatte er schon nach seinem Halbengel-Mädchen gesucht. Zuerst während seiner Jahre auf der Straße, in Mexico City, nachdem er aus dem Waisenhaus abgehauen war. Jede Aura, an der er vorbeikam, hatte er untersucht. Dann, mit elf Jahren, hatte man ihn in eine Jugendstrafanstalt gesteckt. Mit dreizehn war er ausgebrochen und

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