Hueter der Erinnerung
das draußen stattfand und nach dem alle wieder ihre Plätze einnahmen, um die Zeremonien
für die Fünfer, Sechser, Siebener und schließlich, als letzte Zeremonie des heutigen Tages, die der Achter zu feiern.
Jonas applaudierte begeistert, als Lily stolz zur Bühne schritt, wo sie zum Achter ernannt wurde und die entsprechende Jacke
bekam, die sie jetzt ein Jahr lang tragen würde. Sie hatte kleinere Knöpfe als die Jacke der Siebener und – zum ersten Mal
– auch Taschen, was bedeutete, dass sie jetzt alt genug war, um kleine Besitztümer bei sich zu tragen. Mit ernstem Gesicht
hörte sie sich die Ansprache an, in der die Verantwortung der Achter beschrieben wurde und in der auch genaue Anweisungen
für das neue Jahr gegeben wurden, besonders für die jetzt beginnenden Praktikumsstunden. Jonas bemerkte, dass Lily, die zwar
aufmerksam zuzuhören schien, immer wieder sehnsüchtig zu der Reihe der glänzenden Fahrräder schielte, die morgen den Neunern
anvertraut werden würden.
Nächstes Jahr, Lily-Billy, dachte Jonas verständnisvoll.
Alles in allem war es ein anstrengender Tag gewesen und selbst Gabriel schlief in der folgenden Nacht friedlich durch, nachdem
sie ihn aus dem Säuglingszentrum geholt hatten.
Morgen endlich war der große Tag, die Zeremonie der Zwölfer, dachte Jonas beim Einschlafen.
Nun saß Vater neben Mutter im Publikum. Jonas konnte sehen, wie sie pflichtschuldig applaudierten, als ein Neuner nach dem
anderen auf seinem neuen Rad, das hinten ein großes, glänzendes Namensschild trug, von der Bühne fuhr. Er sah, dass seine
Eltern sich einen nervösen Blick zuwarfen, als Fritz, der im Nachbarhaus wohnte, sein Rad in Empfang nahm und auch prompt
damit ins Publikum fuhr. Fritz war ein sehr ungeschicktes Kind, gegen das immer wieder Strafmaßnahmen ergriffen wurden. Seine
Vergehen waren allerdings geringfügig: Schuhe am falschen Fuß, verlegte Schulaufgaben, schlechte Vorbereitung auf eine Klassenarbeit.
Und doch warfen selbst diese kleinen Vergehen ein schlechtes Licht auf die erzieherischen Fähigkeiten seiner Eltern, verletzten
den Ordnungssinn der Gemeinschaft und störten den reibungslosen Tagesablauf. Jonas und seine Familie hatten sich nicht unbedingt
gefreut, als ihnen eingefallen war, dass Fritz dieses Jahr sein Rad bekommen würde, das – wie sie fürchteten – vermutlich
allzu häufig achtlos auf dem Weg liegen würde, statt ordnungsgemäß im Radständer abgestellt zu werden.
Nachdem alle Neuner ihre neuen Räder draußen abgestellt hatten, wo sie bis zum Abend auf ihre neuen Besitzer warten würden,
saßen schließlich alle Kinder wieder auf ihren Plätzen. Es wurde immer viel gewitzelt, wenn die Neuner zum ersten Mal auf
ihre Räder stiegen und nach Hause fuhren. »Soll ichdir beibringen, wie man darauf fährt?«, riefen ältere Freunde und Freundinnen dem Betreffenden zu. »Ich weiß ja, dass du noch
nie im Leben auf so einem Ding gesessen hast!« Doch die Neuner, die in bewusster Verletzung der Regel wochenlang heimlich
geübt hatten, setzten sich auf den Sattel und fuhren ausnahmslos alle davon, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, und die
kleinen Stützräder für den Anfang berührten den Boden so gut wie nie.
Nun kamen die Zehner an die Reihe. Jonas hatte die Zehner-Zeremonie schon immer grässlich langweilig gefunden. Eine reine
Zeitverschwendung, allen Zehnern auf der Bühne symbolisch die Haare zu schneiden. Die Mädchen verloren ihre Zöpfe und auch
den Jungen wurden ihre bislang fast schulterlangen Haare abgeschnitten. Mit dem neuen Schnitt, der die Ohren frei ließ, sahen
sie gleich viel älter und erwachsener aus.
Arbeiter mit Besen hasteten in aller Eile über die Bühne, um die abgeschnittenen Haarbüschel wegzukehren. Jonas sah, dass
die Eltern der neuen Zehner aufgeregt miteinander flüsterten, und er wusste, dass am heutigen Abend in vielen Häusern der
Gemeinschaft die hastig ausgeführten Haarschnitte korrigiert und verschönert werden würden.
Die Elfer. Es schien noch gar nicht lange her zu sein, als auch Jonas diese Zeremonie gefeiert hatte, die wahrlich nicht zu
den interessantesten gehörte. Als Elfer wartete man eigentlich nur noch darauf,endlich ein Zwölfer zu werden. Es war einfach nur ein weiterer Meilenstein ohne bedeutende Veränderungen auf dem Weg ins Erwachsenenleben.
Es gab neue Kleidung: andere Unterwäsche für die Mädchen, deren Körper sich allmählich veränderten, und
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