Hueter der Erinnerung
vor.
»Richtig«, sagte Lily und musste ebenfalls lachen. »Wie Tiere.« Keines der Kinder hatte eine Ahnung, was dieser Begriff genau
bedeutete, aber er wurde oft verwendet, um jemanden zu beschreiben, der unhöflich oder taktlos war, jemanden, der sich nicht
in die Gemeinschaft einfügte.
»Woher kamen diese Besucher?«, erkundigte sich Vater.
Lily runzelte die Stirn und überlegte. »Unser Lehrer hat es in seiner Begrüßungsansprache gesagt, aber ich weiß es nicht mehr.
Ich habe wahrscheinlich nicht aufgepasst. Es war eine andere Gemeinschaft. Sie mussten sehr früh wieder wegfahren und im Bus
zu Mittag essen.«
Mutter nickte. »Ist es vielleicht möglich, dass sie in ihrer Gemeinschaft andere Regeln haben und deshalb einfach nicht wussten,
welche Regeln auf eurem Spielplatz gelten?«
Lily zuckte mit den Schultern und nickte dann. »Mag sein.«
»Ihr habt doch auch schon einmal eine andere Gemeinschaft besucht, nicht wahr?«, fragte Jonas. »Meine Gruppe hat das oft getan.«
Lily nickte erneut. »Als wir noch Sechser waren, verbrachten wir einmal einen ganzen Tag mit den Sechsern ihrer Gemeinschaft.«
»Und wie hast du dich gefühlt, als ihr dort gewesen seid?«
Lily überlegte stirnrunzelnd. »Komisch, weil es dort anders zuging. Sie hatten Dinge gelernt, die meine Gruppe nicht kannte,
und deshalb kamen wir uns dumm vor.«
Vater hatte interessiert zugehört.
»Lily, ich denke gerade an den Jungen, der heute gegen die Regeln verstoßen hat«, sagte er. »Wäre es nicht möglich, dass er
sich komisch und dumm vorkam, weil er an einem fremden Ort war, dessen Regeln er nicht kannte?«
Lily überlegte lange. »Ja«, sagte sie schließlich.
»Mir tut er ein bisschen leid«, sagte Jonas, »ob wohl ich ihn gar nicht kenne. Mir tut jeder leid, der an einem Ort ist, an dem er sich komisch und dumm vorkommt.«
»Wie fühlst du dich jetzt, Lily?«, fragte Vater. »Immer noch verärgert?«
»Ich glaube nicht«, erklärte Lily. »Jetzt tut er mir auch ein bisschen leid.« Sie grinste verlegen. »Mir tut auch leid, dass
ich eine Faust gemacht habe.«
Jonas lächelte seiner Schwester zu. Lilys Gefühle waren immer so direkt, geradlinig und normalerweise leicht zu erklären.
Er vermutete, dass auch seine so gewesen waren, als er noch ein Siebener gewesen war.
Höflich, wenn auch nicht sehr aufmerksam, hörte er zu, als sein Vater an der Reihe war und schilderte, was ihm heute während
der Arbeit zu schaffen gemacht hatte. Es ging um ein Kleinkind, das Schwierigkeiten machte. Jonas’ Vater war Säuglingspfleger.
Er und die anderen Pfleger waren für die körperlichen und seelischen Bedürfnisse der Neugeborenen zuständig. Es war ein sehr
wichtiger Beruf, das wusste Jonas, allerdings keiner, der ihn besonders fasziniert hätte.
»Welches Geschlecht hat das Kind?«, wollte Lily wissen.
»Es ist ein Junge«, sagte Vater. »Ein süßer kleiner Junge mit besten Anlagen. Aber er entwickelt sich körperlich nicht so,
wie er sollte, und schläft auch noch nicht durch. Seit einiger Zeit geben wir ihm eine Spezialnahrung, aber das Komitee überlegt
sich allmählich, ob er vielleicht freigegeben werden sollte.«
»O nein!«, rief Mutter mitfühlend. »Ich verstehe, wie traurig dich das machen muss.«
Auch Jonas und Lily konnten Vaters Gefühle nachvollziehen. Es war immer traurig, wenn ein Neugeborenes von der Gemeinschaft
freigegeben werden musste, weil es das Leben in ihrer Mitte noch nicht hatte genießen können. Und es hatte auch nichts falsch
gemacht. Es gab nur zwei Arten des Freigebens, die keine Strafmaßnahme darstellten. Das betraf zum einen die Alten, für die
bei diesem Anlass eine Abschiedsfeier stattfand, bei der ihr gutes und erfülltes Leben gewürdigt wurde; zum anderen die Säuglinge,
deren Abschied mit einem Gefühl des Bedauerns einherging, weil ihnen so vieles entgehen würde. Besonders traurig war dies
für die Pfleger wie Vater, die bei einem solchen Anlass das Gefühl hatten, sie hätten versagt. Aber zum Glück kam das nur
selten vor.
»Nun«, sagte Vater, »ich versuche es weiter. Ich könnte das Komitee um die Erlaubnis bitten, ihn nachts hierherbringen zu
dürfen, falls ihr nichts dagegen habt. Ihr wisst ja, wie die Pfleger der Nachtschicht sind. Ich glaube, der kleine Kerl braucht
einfach etwas mehr Zuwendung.«
»Aber natürlich«, sagte Mutter und Jonas und Lily nickten zustimmend. Ihr Vater hatte sich schon oft über die Pfleger der
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