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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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dem Hügel inmitten der wirbelnden Schneeflocken.
    Jonas grinste vor Freude, als er seinen Atem sehen konnte. Dann blickte er nach unten, wie ihm aufgetragen worden war. Er
     sah seine eigenen, schneebedeckten Hände, die das Seil umklammerten. Er sah seine Beine und rückte sie auseinander, um einen
     Blick auf den Schlitten darunter zu werfen.
    Vor Verblüffung sah er gleich zweimal hin. Dieses Mal war es kein flüchtiger Eindruck. Dieses Mal hatte der Schlitten – und
     er hatte es auch noch, nachdem er die Augen zugekniffen und dann wieder geöffnet hatte – genau die mysteriöse Eigenschaft,
     die auch der Apfel kurz gehabt hatte. Und auch Fionas Haare. Der Schlitten veränderte sich nicht. Er war einfach so – was
     immer es auch war.
    Jonas öffnete die Augen und lag unbeweglich da. Der Geber beobachtete ihn gespannt.
    »Ja«, sagte Jonas langsam. »Ich sah es an dem Schlitten.«
    »Gut, versuchen wir noch etwas. Sieh dort hinüber zum Regal hinter dem Tisch. Siehst du die Bücher in der oberen Reihe?«
    Jonas suchte mit den Augen nach den besagten Büchern. Er starrte sie an, und tatsächlich, sie veränderten sich. Aber nur für
     einen kurzen Moment. Im nächsten Moment war es schon wieder vorbei.
    »Ja, es passiert«, sagte Jonas. »Es passiert mit den Büchern, aber nur kurz, dann ist es wieder weg.«
    »Dann habe ich recht«, sagte der Geber. »Du beginnst die Farbe Rot zu sehen.«
    »Die was?«
    Der Geber seufzte. »Wie kann man das erklären? Einst, vor langer Zeit, hatte alles eine Form und eine Größe, genau wie auch
     heute noch, aber es hatte zusätzlich noch eine Eigenschaft, die man
Farbe
nannte. Es gab viele Farben und eine von ihnen hieß Rot. Das ist die Farbe, die du allmählich siehst. Deine Schulfreundin
     Fiona hat rotes Haar – ein recht auffälliges Rot. Es ist mir früher bereits aufgefallen. Als du Fionas Haar erwähnt hast,
     begann ich zu begreifen, dass du höchstwahrscheinlich die Farbe Rot wahrnehmen kannst.«
    »Und was ist mit den Gesichtern der Leute? Die ich bei der Zeremonie gesehen habe?«
    Der Geber schüttelte den Kopf. »Nein, Gesichter sind nicht rot. Aber sie können eine rötliche Färbung annehmen. Es gab sogar
     einmal eine Zeit – du wirst es später in den Erinnerungen sehen   –, in der die Menschen unterschiedliche Hautfarben hatten. Aber das war vor der
Gleichheit.
Heute sind alle Menschen gleich, und was du gesehen hast, war nur eine rötliche Färbung. Als du gesehen hast, wie die Gesichter
     sich veränderten, war es vermutlich nicht so kräftig und tief wie bei dem Apfel oder bei den Haaren deiner Freundin.«
    Der Geber schmunzelte amüsiert. »Wir haben die
Gleichheit
nie völlig erreicht. Ich nehme an, dass die genetischen Forscher noch immer verzweifelt daran arbeiten, derartige Ausrutscher
     zu eliminieren. Haare wie die von Fiona müssen sie an den Rand der Verzweiflung treiben.«
    Jonas versuchte, das zu begreifen. »Und der Schlitten?«, fragte er. »Er hatte dasselbe: die Farbe Rot. Aber er hat sich nicht
     verändert, Geber. Er
war
einfach so.«
    »Weil er eine Erinnerung aus einer Zeit ist, in der es Farben
gab

    »Es war so – oh, ich wünschte, Worte wären genauer! Das Rot war so wunderschön!«
    Der Geber nickte. »Rot ist eine wunderschöne Farbe.«
    »Seht Ihr sie ständig?«
    »Ich sehe sie alle. Alle Farben.«
    »Werde ich das auch können?«
    »Natürlich. Wenn du die Erinnerungen aufnimmst. Du hast die Fähigkeit, über die Dinge hinauszusehen. Wenn du die Farben kennenlernst,
     wirst du gleichzeitig auch Weisheit erlangen. Und vieles mehr.«
    An Weisheit war Jonas im Moment jedoch nicht sonderlich interessiert. Es waren die Farben, die ihn faszinierten. »Warum kann
     nicht jeder sie sehen? Warum sind die Farben verschwunden?«
    Der Geber zuckte nur mit den Schultern. »Unsere Vorfahren haben diese Entscheidung getroffen, die Entscheidung für die Gleichheit.
     Das war vor unserer Zeit, viele, viele Jahre zuvor. Wir verzichteten auf die Farben, als wir auf Sonnenschein verzichteten
     und alle Unterschiede abschafften.« Er überlegte kurz. »Wir erlangten die Kontrolle über viele Dinge. Aber dafür mussten wir
     auf andere verzichten.«
    »Das hätten wir nicht tun dürfen!«, sagte Jonas mit ungewohnter Heftigkeit. Bei Jonas’ aufbrausender Reaktion blickte der
     Geber erstaunt auf. Dann lächelte er gequält. »Du bist sehr schnell zu diesem Schluss gekommen«, sagte er. »Ich habe viele
     Jahre dafür gebraucht.

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