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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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hast das Wort gefunden. Das macht mir die Sache wesentlich leichter. Ich muss nicht so viel erklären.«
    »Und er kam vom Himmel.«
    »Stimmt«, sagte der Alte lächelnd. »Genau so war es früher.«
    »Vor der
Gleichheit.
Vor der Klimakontrolle«, ergänzte Jonas.
    Der Alte lachte. »Du begreifst und lernst rasch. Ich bin zufrieden mit dir. Das reicht für heute, glaube ich. Es war ein guter
     Anfang.«
    Jonas hatte noch eine Frage auf dem Herzen. »Sir«, sagte er, »die Chefälteste sagte mir – und auch den anderen – und Ihr habt
     es auch gesagt, dass es schmerzhaft sein würde. Ich hatte mich ein bisschen gefürchtet. Aber es tat kein bisschen weh. Es
     hat mir sogar richtig gefallen.« Fragend blickte er zu dem alten Mann auf.
    Der Mann seufzte. »Ich wollte mit angenehmen Dingen beginnen. Aus den Erfahrungen des letzten Mals habe ich gelernt, dass
     es ratsamer ist.« Er holte ein paarmal tief Luft. »Jonas«, sagte er dann, »es wird schmerzhaft werden. Aber vorläufig noch
     nicht.«
    »Ich bin tapfer, wirklich!«, versicherte Jonas und richtete sich ein Stück auf.
    Der alte Mann musterte ihn nachdenklich. Er lächelte. »Das sehe ich«, sagte er. »Nun, da du mich schon einmal gefragt hast
     – ich glaube, ich habe noch genügend Energie für eine weitere Übertragung. Leg dich noch mal hin. Zum letzten Mal für heute.«
    Jonas gehorchte frohen Herzens. Er schloss die Augen, wartete und spürte erneut die Hände auf dem Rücken. Dann kam die Wärme
     wieder, der Sonnenschein, hoch oben vom Himmel dieses neuen Bewusstseins, das noch so ungewohnt für ihn war. Als er dieses
     Mal in dieser schönen, angenehmen Wärme döste, spürte er, wie die Zeit verging. Sein wirkliches Bewusstsein wusste zwar, dass
     höchstens ein oder zwei Minuten vergingen, aber sein anderes Bewusstsein, das die Erinnerung empfing, spürte, wie die Stunden
     vergingen, während er in der Sonne lag. Seine Haut begann zu stechen und zu brennen. Unruhig bewegte er einen Arm, winkelte
     ihn an und spürte einen stechenden Schmerz in der Armbeuge.
    »Aua«, sagte er laut und rutschte auf dem Bettherum. »Auuu!«, sagte er dann, zuckte unter der Bewegung zusammen, und als er beim Sprechen den Mund bewegte, tat ihm das
     Gesicht weh.
    Er wusste, dass es dafür ein Wort geben musste, aber vor lauter Schmerzen konnte er es nicht finden.
    Dann war es vorbei. Er öffnete die Augen und zuckte vor Schmerzen zusammen. »Es tat weh«, sagte er zu dem Alten, »aber das
     Wort dafür habe ich nicht gefunden.«
    »Sonnenbrand«, erklärte der Alte.
    »Es tat grässlich weh«, sagte Jonas, »aber ich bin trotzdem froh, dass ich diese Erfahrung gemacht habe. Es war interessant.
     Jetzt begreife ich auch besser, was Ihr gemeint habt, als Ihr sagtet, dass es schmerzhaft sein kann.«
    Der Mann antwortete nicht. Er saß einen Moment lang reglos da. Dann sagte er: »Steh jetzt auf. Es ist Zeit für dich, nach
     Hause zu gehen.«
    Gemeinsam kehrten sie an den Tisch in der Mitte des Raums zurück. Jonas zog seine Tunika über. »Auf Wiedersehen, Sir«, sagte
     er. »Ich danke Euch für diesen ersten Tag.«
    Der alte Mann nickte ihm zu. Er sah erschöpft aus und auch etwas traurig.
    »Sir?«, fragte Jonas schüchtern.
    »Ja? Hast du noch eine Frage?«
    »Es ist nur – ich würde gern Euren Namen wissen. Ich dachte, Ihr seid der Hüter, aber Ihr habt vorhingesagt, ich sei jetzt der Hüter. Deshalb weiß ich gar nicht, wie ich Euch nennen soll.«
    Der Mann nahm auf dem Polsterstuhl Platz und legte den Kopf an die Lehne. Er bewegte die Schultern, als wollte er einen großen
     Schmerz vertreiben. Er sah sehr, sehr müde aus.
    »Nenn mich Geber«, sagte er zu Jonas.

12
    »Hast du gut geschlafen, Jonas?«, fragte seine Mutter am nächsten Morgen beim Frühstück. »Nichts geträumt?«
    Jonas nickte nur lächelnd, da er weder lügen wollte noch bereit war, die Wahrheit zu sagen. »Ich habe sehr gut geschlafen«,
     sagte er.
    »Ich wünschte, das könnte ich auch sagen«, sagte der Vater und beugte sich hinunter, um Gabriels Händchen zu streicheln. Das
     Körbchen stand neben ihm auf dem Boden, und oben in der Ecke, neben Gabriels Köpfchen, starrte das Nilpferd aus Stoff mit
     leeren Augen ins Weite.
    »Ich auch«, sagte Mutter und verdrehte die Augen. »Nachts ist er eine richtige Nervensäge.«
    Jonas hatte den Kleinen nicht gehört, weil er wie immer tatsächlich tief und fest geschlafen hatte. Aber es stimmte nicht,
     dass er nichts geträumt

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