Hueter der Erinnerung
hatte.
Immer wieder war er im Traum auf einem Schlitten einen schneebedeckten Abhang hinuntergefahren. Dabei hatte er im Traum immer
das Gefühl gehabt, es gäbe ein Ziel: irgendetwas – er konnte es nicht näher definieren –, das von der Stelle, an der sein Schlitten zum Halten gekommen war, noch weit entfernt war.
Beim Aufwachen hatte er das Gefühl gehabt, er wolle, ja er müsse dieses Etwas, das in der Ferne aufihn wartete, erreichen. Das Gefühl, dass es einfach so sein müsse. Dass er dort willkommen sein würde. Dass es sehr wichtig
wäre.
Aber er wusste nicht, wie er dorthin gelangen sollte.
Er versuchte, die Überbleibsel dieses Traums abzuschütteln, indem er seine Schulsachen zusammenpackte und sich auf den neuen
Tag vorbereitete.
Die Schule kam ihm heute anders vor als sonst. Die Unterrichtsstunden waren dieselben wie immer: Sprache und Kommunikation,
Handel und Industrie, Naturwissenschaften und Technologie, Rechte und Pflichten des Bürgers sowie Gemeinschaftskunde und Politik.
Doch während der Pausen unterhielten sich die Zwölfer mit Feuereifer über ihren ersten Ausbildungstag. Sie redeten fast alle
gleichzeitig, fielen einander ins Wort, leierten dann rasch die vorgeschriebene Entschuldigungsfloskel herunter, verfielen
aber bald wieder in dieselbe Unhöflichkeit, weil sie einfach zu aufgeregt waren und unbedingt ihre neuen Erfahrungen mitteilen
wollten.
Jonas hörte ihnen zu. Er wusste, dass es ihm verboten war, über seine Ausbildung zu sprechen. Aber es wäre sowieso unmöglich
gewesen. Es hätte keine Möglichkeiten gegeben, seinen Freunden mitzuteilen, was er in dem kleinen Raum erlebt hatte. Wie hätte
er einen Schlitten schildern sollen, ohne gleichzeitig von einem Berg und Schnee zu sprechen? Und wie hätte er jemandem einen
Berg und Schnee beschreibenkönnen, der noch nie Höhe oder Wind oder diese federleichte, verzauberte Kälte gespürt hatte?
Obwohl sie alle jahrelang intensiv in sprachlicher Präzision geschult worden waren – mit welchen Worten hätte er den anderen
das Gefühl von Sonnenschein vermitteln können?
Deshalb kostete es Jonas keine Überwindung, nur schweigend zuzuhören.
Nach der Schule fuhr er wieder mit Fiona zum Altenzentrum.
»Ich habe gestern noch auf dich gewartet«, sagte sie, »um mit dir zusammen nach Hause zu fahren. Dein Rad stand noch da und
ich habe eine Weile gewartet. Aber dann wurde es mir zu spät.«
»Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich warten ließ«, sagte Jonas.
»Ich nehme deine Entschuldigung an«, erwiderte sie automatisch.
»Es dauerte doch etwas länger, als ich dachte«, erklärte Jonas.
Schweigend traten sie in die Pedale und Jonas wusste, dass sie darauf wartete, dass er ihr den Grund nannte. Sie wartete darauf,
dass er vom ersten Tag seiner Ausbildung erzählte. Aber ihn danach zu fragen wäre unhöflich gewesen.
»Du hast so viele Praktikumsstunden im Altenzentrum verbracht«, sagte Jonas, um das Thema zu wechseln. »Es gibt sicher nicht
vieles, was du noch nicht weißt.«
»Oh, es gibt noch viel zu lernen«, antwortete Fiona. »Die ganze Verwaltungsarbeit, die Diätvorschriften, Strafmaßnahmen bei
Ungehorsam – hast du gewusst, dass es auch für die Alten eine Rute gibt, genau wie für die Kleinen? Außerdem gibt es Beschäftigungstherapien,
Freizeitaktivitäten, Medikamentenkunde und …«
Sie waren inzwischen am Altenzentrum angekommen und bremsten ab.
»Ich glaube wirklich, dass mir das Arbeiten besser gefällt als die Schule«, sagte Fiona vertraulich.
»Mir auch«, stimmte Jonas zu, während er sein Rad abstellte.
Sie blieb eine Sekunde stehen, als würde sie erneut darauf warten, dass er weitererzählte. Doch dann blickte sie zur Uhr,
winkte ihm zum Abschied zu und verschwand in dem großen Portal.
Jonas stand einen Augenblick lang neben seinem Rad und wunderte sich. Eben war es schon wieder passiert: das, von dem er inzwischen
glaubte, es müsse das »Über-die-Dinge-Hinaussehen« sein. Dieses Mal war es Fiona, an der er diese plötzliche, unbeschreibliche
Veränderung feststellte. Als er ihr nachblickte, als sie durch das Portal ging, passierte es wieder: Sie veränderte sich.
Eigentlich war es nicht die ganze Fiona, wie Jonas bei genauerer Überlegung feststellte. Es war nur ihr Haar. Und wieder nur
für einen kurzen Moment.
Er dachte darüber nach. Es passierte ihm jetzt öfter.Zuerst war es der Apfel vor ein paar Wochen. Das nächste Mal waren
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