Hueter der Erinnerung
Vielleicht wirst du auch schneller weise als ich.«
Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Leg dich wieder hin. Wir haben noch viel zu tun heute.«
»Geber«, sagte Jonas, als er sich wieder auf dem Bett ausstreckte, »wie war es bei Euch, als Ihr mitEurer Ausbildung zum Hüter begonnen habt? Ihr habt gesagt, dass auch Ihr über die Dinge hinaussehen konntet, aber auf eine
andere Art.«
Die Hände legten sich auf seinen Rücken. »Ein andermal«, sagte der Geber leise. »Ich erzähle es dir ein andermal. Jetzt müssen
wir arbeiten. Mir ist eingefallen, wie ich dir eine Vorstellung von den Farben vermitteln kann. Schließ jetzt die Augen und
sei still. Ich übergebe dir die Erinnerung an einen Regenbogen.«
13
Tage vergingen und Wochen. Durch die Erinnerungen lernte Jonas die Namen der Farben kennen. Und er begann sie auch im normalen Leben überall zu sehen (obwohl
er wusste, dass sein Leben nicht mehr normal war und es auch nie mehr sein würde). Aber sie waren nicht bleibend. Er sah hie
und da einen flüchtigen Schimmer von Grün auf dem Rasen rund um den Großen Platz oder an einem Busch am Ufer des Flusses.
Das helle Orange der Kürbisse, die von der Anbaufläche jenseits der Grenzen der Gemeinschaft herantransportiert wurden – er
sah sie nur einen Augenblick; ein schnelles Aufblitzen, das ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war, und schon
nahmen alle Gegenstände wieder ihre eintönige, farblose Tönung an.
Der Geber sagte ihm, dass es sehr lange dauern werde, bis er die Farben festhalten könne.
»Aber ich möchte sie sehen!«, rief Jonas aufgebracht. »Es ist einfach unfair, dass nichts eine Farbe hat!«
»Unfair?« Der Geber blickte Jonas verständnislos an. »Erkläre mir bitte, was du meinst.«
»Nun …« Jonas musste zuerst überlegen. »Wenn alles gleich ist, dann hat man doch gar keine Wahl! Ich möchte morgens aufwachen und
Dinge
entscheiden
können! Eine blaue Tunika oder eine rote?«
Er blickte an sich hinunter, auf den farblosen Stoff seiner Tunika. »Aber es ist immer dasselbe, jeden Tag.«
Dann lachte er leise auf. »Ich weiß, dass es unwichtig ist, was man trägt. Es spielt keine Rolle. Aber trotzdem …«
»Es geht dir um die Möglichkeit, eine Entscheidung treffen zu können, nicht wahr?«, fragte ihn der Geber.
Jonas nickte. »Mein kleiner Bruder …«, begann er, doch dann korrigierte er sich. »Nein, das stimmt nicht. Er ist nicht mein Bruder, nicht wirklich. Aber dieser
Säugling, den meine Familie aufgenommen hat … er heißt Gabriel.«
»Ja, ich weiß von Gabriel.«
»Nun, er ist jetzt in einem Alter, in dem er so vieles lernt. Er greift nach Spielsachen, wenn wir sie vor ihn halten – mein
Vater sagt, er erlernt die Beherrschung seiner Feinmotorik. Und er ist wirklich süß.«
Der Geber nickte.
»Aber jetzt, wo ich Farben sehe, zumindest manchmal, habe ich mir überlegt: Was wäre, wenn wir ihm Dinge zeigen würden, die
rot oder gelb oder blau wären, und er wählen könnte? Anstelle dieser ständigen
Gleichheit
.«
»Er könnte eine falsche Entscheidung treffen.«
»Oh.« Jonas musste eine Weile nachdenken. »Oh, ich verstehe, was Ihr meint. Bei Kinderspielzeug wäre das egal. Aber später
könnte es eine Rolle spielen,nicht wahr? Wir trauen uns nicht, die Leute ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen.«
»Weil es Risiken birgt?«, schlug der Geber vor.
»Es birgt Risiken«, sagte Jonas mit Überzeugung. »Was wäre, wenn sich jeder seinen Lebensgefährten aussuchen dürfte? Und dabei
die
falsche
Entscheidung träfe? Oder wenn«, bei der Absurdität dieser Überlegung hätte er fast laut aufgelacht, »jeder sich seinen Beruf
selbst aussuchen dürfte?«
»Keine schöne Vorstellung, nicht wahr?«, sagte der Geber.
»Eine schreckliche Vorstellung!«, musste Jonas grinsend zugeben. »Ich kann es mir nicht einmal vorstellen. Wir müssen die
Leute vor falschen Entscheidungen schützen.«
»Das ist sicherer.«
»Ja«, gab Jonas zu. »Viel sicherer.«
Doch als sie anschließend über andere Dinge sprachen, nagte in Jonas noch immer ein Gefühl der Frustration, das er nicht verstand.
Er stellte fest, dass er in letzter Zeit häufig wütend war. Grundlos wütend auf seine Klassenkameraden, die voll und ganz
zufrieden waren mit ihrem Leben, das nichts von dem pulsierenden Aufgewühltsein des Lebens hatte, das er jetzt führte. Und
er war wütend auf sich selbst, darauf, dass er nichts für
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