Hueter der Erinnerung
es die Gesichter im Auditorium gewesen, erst vor zwei Tagen.
Und heute Fionas Haare.
Stirnrunzelnd marschierte Jonas zum Anbau. Ich werde den Geber fragen, beschloss er.
Der alte Mann blickte lächelnd auf, als Jonas den Raum betrat. Er saß bereits neben dem Bett und schien heute kraftvoller
zu sein, etwas frischer als gestern, und freute sich offensichtlich über Jonas’ Besuch.
»Sei willkommen«, sagte er. »Wir müssen gleich anfangen. Du kommst eine Minute zu spät.«
»Ich entsch…«, begann Jonas, doch dann hielt er mitten im Wort inne, weil ihm einfiel, dass er sich nicht entschuldigen sollte.
Er zog die Tunika aus und legte sich auf das Bett. »Ich kam eine Minute zu spät, weil etwas passiert ist«, erklärte er. »Und
deswegen würde ich Euch gerne etwas fragen, wenn ich darf.«
»Du kannst mich alles fragen.«
Sorgfältig legte Jonas sich die Worte zurecht, damit er sich klar ausdrückte. »Ich glaube, es hat etwas mit dem zu tun, was
Ihr ›Über-die-Dinge-Hinaus sehen ‹ nennt«, sagte er.
Der Geber nickte. »Kannst du es beschreiben?«, fragte er.
Jonas erzählte von seinem Erlebnis mit dem Apfel. Dann von dem Augenblick auf der Bühne, als er insPublikum geblickt hatte und dasselbe Phänomen auf den Gesichtern in der Menge gesehen hatte.
»Und gerade eben, vor der Tür, ist mir dasselbe mit Fiona passiert. Sie selbst hat sich eigentlich nicht verändert. Aber etwas
an ihr hat sich für einen Augenblick verändert. Ihr Haar sah plötzlich anders aus. Aber es war nicht die Form oder die Länge.
Ich kann es nicht richtig …« Enttäuscht darüber, dass er nicht erklären konnte,
was
sich verändert hatte, machte Jonas eine kurze Pause.
Schließlich sagte er nur: »Es veränderte sich. Ich weiß nicht, wie oder warum. Deshalb kam ich eine Minute zu spät«, sagte
er abschließend und blickte den Geber fragend an.
Zu seiner Überraschung stellte ihm der alte Mann eine Frage, die absolut nichts mit seinem Erlebnis zu tun hatte. »Als ich
dir gestern die Erinnerung übertragen habe, die erste, die mit der Schlittenfahrt, hast du dich da umgesehen?«
Jonas nickte. »Ja«, sagte er, »aber das Zeug in der Luft – ich meine, der Schnee – machte es fast unmöglich, etwas zu sehen.«
»Hast du dir den Schlitten angeschaut?«
Jonas versuchte, sich zu erinnern. »Nein, ich habe ihn nur unter mir gespürt. Ich habe letzte Nacht sogar davon geträumt.
Aber ich kann mich nicht daran erinnern, den Schlitten im Traum gesehen zu haben. Ich habe ihn nur gespürt.«
Der Geber schien nachzudenken.
»Als ich dich beobachtet habe, bevor wir dich auserwählt haben, begriff ich bereits, dass du diese Fähigkeit hast, und was
du mir jetzt erzählst, bestätigt es. Bei mir war es etwas anders«, sagte der Geber. »Als ich etwa so alt war wie du – kurz
bevor ich zum neuen Hüter ernannt wurde –, begann ich, es zu spüren, aber es war eine andere Form. Bei mir war es … nun, ich möchte es noch nicht beschreiben. Du würdest es noch nicht verstehen. Aber ich glaube, ich weiß, wie das ist. Machen
wir einen kleinen Test, um zu sehen, ob meine Vermutung zutrifft. Leg dich hin.«
Jonas legte sich auf das Bett, die Hände wieder seitlich am Körper. Er fühlte sich hier jetzt sehr wohl.
Er schloss die Augen und wartete auf das nunmehr schon fast vertraute Gefühl der Hände des Gebers auf seinem Rücken.
Aber es kam nicht. Stattdessen sagte der Geber zu ihm: »Rufe die Erinnerung an die Schlittenfahrt noch einmal auf. Nur den
Anfang davon, als du oben auf dem Berg warst, bevor der Schlitten losfuhr. Und schau dir dieses Mal den Schlitten an.«
Jonas war verwundert. Er öffnete die Augen. »Entschuldigung«, sagte er höflich, »aber müsst Ihr mir die Erinnerung nicht zuerst
übertragen?«
»Es ist jetzt deine Erinnerung. Ich trage sie nicht mehr in mir. Ich habe sie weggegeben.«
»Aber wie kann ich sie zurückrufen?«
»Du erinnerst dich doch noch an letztes Jahr oder an das Jahr, in dem du ein Siebener oder Fünfer warst, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Es ist fast dasselbe. Jeder in der Gemeinschaft hat Erinnerungen aus seinem Leben, aus seiner Generation. Aber nunmehr bist
du in der Lage, weiter zurückzugehen. Versuche es. Du musst dich nur konzentrieren.«
Jonas schloss wieder die Augen. Er holte tief Luft und suchte in seinem Bewusstsein nach dem Schlitten, dem Berg und dem Schnee.
Und plötzlich war alles da, ganz mühelos. Er saß wieder oben auf
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