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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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Freund für immer verabschiedet
     hatte.
    Doch Vater fuhr unbekümmert damit fort, Lily zu kämmen, und Lily wurde allmählich ungeduldig und versuchte, den Arm ihres
     Bruders abzuschütteln. »Jonas«, sagte sie, »du tust mir weh!«
    »Ich entschuldige mich dafür, dir wehgetan zu haben«, murmelte Jonas traurig und nahm seinen Arm weg.
    »Nehme deine Entschuldigung an«, antwortete Lily gleichgültig und streichelte ihren leblosen Elefanten.
     
    »Geber«, sagte Jonas eines Tages, als sie sich für die nächste Übertragung vorbereiteten, »habt Ihr keine Ehepartnerin? Ist
     es Euch nicht erlaubt, eine zu beantragen?« Obwohl er wusste, dass er von den Regeln der Höflichkeit befreit war, war ihm
     klar, dass dies eine sehr persönliche und somit unhöfliche Frage war. Aber der Geber hatte ihn stets ermuntert, Fragen zu
     stellen, und schien auch bei den persönlichsten Fragen weder verlegen noch beleidigt zu sein.
    Der alte Mann schmunzelte. »Nein, es gibt keine Regel, die das verbieten würde. Und ich hatte tatsächlich eine Ehepartnerin.
     Du vergisst, wie alt ich bin, Jonas. Meine frühere Lebensgefährtin lebt jetzt bei den Kinderlosen Erwachsenen.«
    »Oh, natürlich!« Jonas hatte tatsächlich nicht darangedacht, wie alt der Geber schon war. Wenn die Erwachsenen der Gemeinschaft älter wurden, veränderte sich ihr Leben. Sie wurden
     nicht länger gebraucht, um Kinder großzuziehen. Jonas’ eigene Eltern würden – wenn er und Lily erwachsen waren – bei den Kinderlosen
     Erwachsenen leben.
    »Wenn du möchtest, kannst du eines Tages einen Antrag auf eine Ehepartnerin stellen, Jonas. Aber ich warne dich, es wird nicht
     einfach sein. Die Bedingungen eures Zusammenlebens werden sich stark von denen der anderen Familien unterscheiden, denn für
     alle anderen Bürger sind Bücher verboten. Du und ich, wir sind die Einzigen, die Zugang zu Büchern haben.«
    Jonas warf einen andächtigen Blick auf die beeindruckende Zahl von Buchrücken an den Wänden. Inzwischen konnte er von Zeit
     zu Zeit schon ihre Farben erkennen. In den bisherigen Stunden, die Jonas beim Geber zugebracht hatte, waren sie so sehr mit
     Gesprächen und der Übertragung von Erinnerungen beschäftigt gewesen, dass Jonas noch gar nicht die Zeit gefunden hatte, ein
     Buch zu öffnen. Ab und zu überflog er jedoch die Titel und so wusste er, dass sie alles Wissen vergangener Jahrhunderte enthielten,
     und auch, dass sie eines Tages ihm gehören würden.
    »Wenn ich also eines Tages eine Ehepartnerin und vielleicht Kinder habe, muss ich meine Bücher vor ihnen verstecken?«
    Der Geber nickte. »Ich durfte die Bücher nicht mit meiner Ehepartnerin teilen, das stimmt. Aber es gibt auch noch weitere
     Schwierigkeiten. Erinnerst du dich an die Regel, die besagt, dass es dem neuen Hüter untersagt ist, über seine Ausbildung
     zu sprechen?«
    Jonas nickte. Natürlich erinnerte er sich daran. Er war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass die Einhaltung dieser Regel
     ihm mit Abstand die meisten Schwierigkeiten bereitete.
    »Wenn deine Ausbildung beendet ist und du offiziell zum neuen Hüter ernannt wirst, wird dir eine Aufstellung völlig neuer
     Regeln übergeben, der Regeln, die auch ich befolge. Und es wird dich sicher nicht überraschen zu erfahren, dass es mir verboten
     ist, über meine Arbeit mit irgendjemand anderem als dem neuen Hüter zu sprechen. Das bist natürlich du. Deshalb wird es einen
     sehr großen Bereich deines Lebens geben, den du nicht mit deiner Familie teilen kannst. Das ist sehr schwer, Jonas. Es ist
     auch mir sehr schwergefallen. Du verstehst doch sicher, dass ich mein eigentliches Leben hier lebe, mit den Erinnerungen.«
    Jonas nickte, aber eine Sache beschäftigte ihn noch. Bestand das Leben nicht aus den kleinen Dingen, die man jeden Tag machte?
     Im Grunde genommen gab es doch gar nichts anderes. »Ich habe Euch noch nie spazieren gehen sehen«, sagte er.
    Der Geber seufzte. »Ich gehe spazieren. Ich essemeine Mahlzeiten. Und wenn das Komitee der Ältesten mich rufen lässt, suche ich sie auf, um sie zu beraten.«
    »Beratet Ihr sie oft?« Der Gedanke, dass es eines Tages seine Aufgabe sein würde, dem mächtigen Komitee der Ältesten, die
     die Regeln der Gemeinschaft festlegten, Ratschläge zu erteilen, erschreckte ihn ein wenig.
    Doch der Geber verneinte. »Selten. Nur wenn sie vor einem Problem stehen, mit dem sie noch keine Erfahrung haben. Dann lassen
     sie mich rufen, damit ich sie aufgrund meiner

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