Hueter der Erinnerung
sie tun konnte.
Er versuchte es. Ohne den Geber um Erlaubnis gefragt zu haben, weil er befürchtete – oder wusste –,dass er es ihm verbieten würde, versuchte er, sein neues Wissen seinen Freunden zu vermitteln.
»Asher«, sagte Jonas eines Morgens, »sieh dir diese Blumen einmal ganz genau an.« Sie standen gerade neben einem Geranienbeet
in der Nähe des Saals der offenen Bücher. Er legte seinen Arm um Ashers Schultern und konzentrierte sich auf das Rot der Blütenblätter,
versuchte, diese Farbe so lange wie möglich zu halten und gleichzeitig seinem Freund das Bewusstsein für die rote Farbe zu
vermitteln.
»Was ist los?«, fragte Asher verlegen. »Stimmt etwas nicht?« Er entwand sich aus Jonas’ Arm. Es galt als extrem unhöflich,
wenn Bürger außerhalb der eigenen Familie einander berührten.
»Nein, es ist nichts. Ich habe nur eben geglaubt, sie würden verwelken und wir sollten eventuell die Gärtner verständigen,
dass sie mehr Wasser brauchen.« Seufzend wandte Jonas sich ab.
Eines Abends kam er von seiner Ausbildung nach Hause, beladen mit neuem Wissen. Der Geber hatte ihm an jenem Tag eine merkwürdige
und beunruhigende Erinnerung übermittelt. Unter der Berührung seiner Hände hatte Jonas sich plötzlich an einem Ort befunden,
der ihm völlig fremd war: heiß und windgepeitscht unter einem grenzenlosen blauen Himmel. Hie und da sah er ein paar spärliche
Grasbüschel, einige Büsche und Felsen, während in einiger Entfernung dichtere Vegetation wuchs: Niedrige, stämmige Bäume zeichneten
sich gegen den Himmel ab. Erhörte Geräusche: das kurze, scharfe Knallen einer Waffe – er nahm das Wort
Gewehr
wahr – und dann Schreie und gleich darauf ein lautes Donnern, als etwas zu Boden fiel, wobei es Zweige von den Bäumen abbrach.
Er hörte Stimmen, die einander etwas zuriefen. Versteckt im dichten Strauchwerk, spähte er in die Richtung, aus der die Rufe
kamen, und ihm fiel ein, was der Geber ihm einmal gesagt hatte, dass es nämlich Zeiten gegeben hatte, in denen die Menschen
unterschiedliche Hautfarben gehabt hatten. Zwei der Männer, die er sah, hatten dunkelbraune Haut, die anderen waren hellhäutig.
Als er näher heranging, sah er, dass sie gerade dabei waren, einem reglos daliegenden Elefanten die Stoßzähne abzuhacken.
Wenig später schleppten sie sie davon, blutbespritzt, wie sie waren. Jonas war wie betäubt, als er begriff, welch weitere
Vorstellung mit jener Farbe verknüpft war, die er als Rot kannte.
Gleich darauf sprangen die Männer in ein vierrädriges Gefährt, dessen sich wild drehende Räder Kieselsteine aufwirbelten,
als es am Horizont verschwand. Einer der Kieselsteine traf Jonas an der Stirn und verletzte ihn. Doch die Erinnerung war noch
nicht zu Ende, obwohl Jonas ihr Ende herbeisehnte.
Plötzlich sah er einen zweiten Elefanten aus dem Dickicht der Bäume auftauchen, wo er sich versteckt hatte. Ganz langsam trottete
er zu dem verstümmeltenKörper seines Artgenossen und blickte auf ihn hinunter. Mit seinem biegsamen Rüssel tastete er langsam und behutsam über den
riesigen, leblosen Körper. Dann fuhr der Rüssel in die Höhe, brach knackend ein paar belaubte Zweige ab und legte sie fein
säuberlich über den toten Fleischberg.
Dann legte der Elefant seinen mächtigen Kopf in den Nacken, hob den Rüssel und brüllte in die leere Landschaft. Ein solches
Geräusch hatte Jonas noch nie gehört. Es war ein Geräusch der Wut und der Pein und es schien nicht mehr enden zu wollen.
Es hallte noch immer in seinen Ohren, als Jonas die Augen wieder öffnete und verängstigt auf dem Bett lag, auf dem er die
Erinnerungen aufnahm. Es ging ihm auch noch nicht aus dem Sinn, als er langsam nach Hause radelte.
»Lily«, sagte er an diesem Abend, als seine Schwester ihr Kuschelobjekt, einen Plüschelefanten, aus dem Regal holte, »hast
du gewusst, dass es früher richtige Elefanten gab? Lebende.«
Sie blickte auf ihr struppiges Kuschelobjekt und musste grinsen. »Klar«, sagte sie skeptisch. »Klar doch, Jonas.«
Jonas setzte sich neben sie und Vater, als dieser Lilys Haarbänder aufmachte und ihr Haar kämmte. Er legte jedem von ihnen
eine Hand auf die Schulter. Mit aller Kraft versuchte er, ihnen ein Stück Erinnerung zu übermitteln. Nicht die des gequälten
Schreis des Elefanten, sondern überhaupt an einen Elefanten,an diese riesengroße, massige Kreatur und an die zärtlichen Berührungen, mit denen er sich von seinem
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