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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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sich nichts Schöneres vorstellen, als friedlich
     neben ihr am Ufer entlangzufahren und wie früher zu lachen und zu reden. Aber er wusste, dass diese Zeiten für ihn unwiederbringlich
     vorüber waren. Er schüttelte den Kopf. Nach einem Augenblick wandten Asher und Fiona sich ab und gingen zu ihren Rädern. Als
     sie davonfuhren, blickte Jonas ihnen lange nach.
    Mühsamen Schrittes schleppte er sich auf die Bank neben der Hütte und setzte sich, von Gefühlen des Verlusts überwältigt.
     Seine Kindheit, seine Freundschaften, das sorglose Dasein – all diese Dinge schienen ihm für immer entglitten zu sein. Eine
     unendliche Traurigkeit, die ebenfalls zum Spektrum seiner neuen, intensivierten Gefühlswelt gehörte, hatte sich seiner bemächtigt,
     als er die anderen lachend und brüllend bei ihrem Kriegsspiel beobachtet hatte. Aber er begriff, dass die anderen seine Reaktion
     nicht verstehen konnten – wie sollten sie auch, ohne Erinnerungen?
    Er fühlte eine große Zuneigung zu Asher und Fiona. Aber sie konnten sie nicht erwidern, ohne Erinnerungen. Und die konnte
     er ihnen nicht geben. Mit einer erschreckenden Deutlichkeit wurde ihm bewusst, dass er nichts ändern konnte.
    Wieder daheim an diesem Abend, erzählte Lily fröhlich von dem wunderschönen Tag, den sie erlebt hatte. Sie hatte mit ihren
     Freunden und Freundinnen gespielt, im Freien zu Mittag gegessen und hatte (wie sie gestand) heimlich eine Spritztour auf Vaters
     Fahrrad unternommen.
    »Ich kann es kaum noch erwarten, bis ich endlich nächsten Monat mein eigenes Fahrrad bekomme! Vaters Rad ist zu groß für mich.
     Ich bin sogar hingefallen«, gestand sie nüchtern. »Ein Glück, dass Eli nicht auf dem Kindersitz saß!«
    »Das kannst du laut sagen!«, stimmte Mutter ihr stirnrunzelnd zu.
    Als Gabriel seinen Namen hörte, fuchtelte er erfreut mit den Ärmchen. Letzte Woche hatte er zu laufen begonnen. Die ersten
     Schritte eines Säuglings waren immer Anlass zu einer kleinen Feier im Säuglingszentrum, sagte Vater, aber auch zur Einführung
     der Strafrute. Seither brachte Vater den dünnen Stab abends mit nach Hause, falls Gabriel sich nicht gut benahm.
    Aber er war ein zufriedenes, unbeschwertes Kind. Noch etwas unsicher bewegte er sich auf seinen beiden Beinchen durch das
     Zimmer und lachte. »Eli!«, piepste er dabei. »Eli!« Das war seine Art, seinen Namen auszusprechen.
    Jonas’ Miene heiterte sich auf. Für ihn war es kein schöner Tag gewesen, obwohl der Morgen so vielversprechend begonnen hatte.
     Tapfer versuchte er,seine trüben Gedanken zu verscheuchen. Er überlegte sich, dass er bald damit beginnen musste, Lily Nachhilfestunden auf seinem
     Rad zu geben, damit sie nach ihrer Neuner-Zeremonie stolz auf ihrem neuen Rad davonradeln konnte. Kaum zu glauben, dass nächsten
     Monat schon wieder Dezember war und dass seit seiner Zwölfer-Zeremonie fast ein Jahr vergangen war.
    Er lächelte, als er sah, wie Eli sorgsam einen Fuß vor den anderen setzte und über das ganze Gesicht strahlte, wenn er zwei
     Schritte nacheinander geschafft hatte.
    »Ich gehe heute früh schlafen«, sagte Vater. »Ich habe einen harten Tag vor mir. Morgen werden die Zwillinge geboren und die
     Testergebnisse haben gezeigt, dass sie eineiig sind.«
    »Einer für uns hier, einer für
Anderswo
«, trällerte Lily unbekümmert vor sich hin. »Einer für uns hier, einer für
An…
«
    »Bringst du ihn direkt nach
Anderswo
, Vater?«, fragte Jonas.
    »Nein, ich treffe nur die Entscheidung. Ich wiege sie, übergebe das kräftigere Baby einem Pfleger, der schon warten wird,
     und dann nehme ich das kleinere, wasche und versorge es. Danach gibt es eine kleine Abschiedsfeier und   …«, nickend lächelte er Gabriel zu, »dann winke ich ihm Ade«, fuhr er mit der gekünstelten, hohen Stimme fort, mit der er
     mit Kleinkindern sprach.
    Gabriel gluckste vor Freude und winkte mit seinen kleinen Händchen zurück.
    »Also kommt jemand und holt ihn ab. Jemand von
Anderswo

    »Richtig, Jonas-Bonus.«
    Jonas verdrehte die Augen, weil sein Vater wieder einmal diesen albernen Kosenamen verwendet hatte.
    Lily schien angestrengt nachzudenken. »Was ist, wenn sie dem kleinen Zwilling in
Anderswo
einen Namen wie zum Beispiel Jonathan geben? Und wenn hier in unserer Gemeinschaft der andere Zwilling, den wir hierbehalten,
     bei seiner Namensgebung zufällig auch den Namen Jonathan erhält? Dann gäbe es zwei Kinder mit demselben Namen und sie würden
     auch noch genau gleich

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