Hueter der Erinnerung
Peng!«
Eine Elfer namens Tanya taumelte aus ihrem Versteck. Theatralisch hielt sie sich die Hände vor den Bauch, machte noch ein
paar zögernde Zickzackschritte, stöhnte »Getroffen!«, und fiel mit einem breiten Grinsen zu Boden.
»Peng!«
Jonas, der seitlich vom Spielfeld stand, erkannte Ashers Stimme. Gleich darauf flitzte sein Freund, der so tat, als habe er
eine Waffe in der Hand, hinter dem einen Baum hervor und in den Schutz des nächsten. »Peng! Du bist in meiner Schusslinie,
Jonas! Pass auf!«
Erschrocken trat Jonas einen Schritt zurück. Er flüchtete sich hinter Ashers Rad und kauerte sich auf den Boden, um außer
Sichtweite zu sein. Es war ein Spiel, das er schon oft mit seinen Freunden gespielt hatte, das Spiel der Guten gegen die Bösen,
ein harmloser Zeitvertreib, mit dem sie ihre überschüssige Energie abbauten, und es war erst dann zu Ende, wenn alle in den
verrücktesten Verrenkungen am Boden lagen.
Dass es sich um ein Kriegsspiel handelte, war ihm noch nie zuvor aufgefallen.
»Angriff!« Der Ruf kam von der Rückseite der kleinen Hütte, in der die Spielrequisiten aufbewahrt wurden. Drei Kinder schossen
hervor und hielten ihre nicht vorhandenen Waffen in Schussposition.
Von der gegenüberliegenden Seite des Spielfelds kam der feindliche Ruf »Gegenangriff!«. Eine Horde Kinder – darunter erkannte
Jonas auch Fiona – tauchte aus ihrem Versteck auf. Sie liefen in geduckter Haltung über das Schlachtfeld und taten so, als
würden sie unaufhörlich auf die Gegner schießen. Verschiedene von ihnen blieben plötzlich abrupt stehen, fassten sich in übertriebener
Pose an die Schulteroder ans Herz, als seien sie getroffen worden, und fielen dann zu Boden, wo sie ihr Gekicher kaum noch unterdrücken konnten.
Eine Welle von Gefühlen übermannte Jonas. Ohne sich zu überlegen, was er tat, marschierte er mitten auf das Spielfeld.
»Du bist getroffen, Jonas!«, rief Asher hinter einem Baum hervor. »Peng! Noch mal getroffen!«
Jonas stand mutterseelenallein auf dem großen Spielfeld. Einige der Kinder hoben verwundert den Kopf und starrten ihn fragend
an. Die angreifende Armee hielt in ihren Bewegungen inne. Die Kinder richteten sich aus ihren geduckten Positionen auf, um
zu sehen, was er vorhatte.
Vor Jonas’ geistigem Auge tauchte das Gesicht des jungen Soldaten auf, der sterbend auf dem Schlachtfeld gelegen und um Wasser
gebettelt hatte. Jonas hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und gleich ersticken zu müssen.
Eines der Kinder tat so, als richte es sein Gewehr auf Jonas, und rief: »Peng!« Als Jonas nicht reagierte, standen plötzlich
alle Kinder verlegen und schweigend da und man hörte nichts mehr außer Jonas’ heftigem Atmen. Verzweifelt versuchte er, jetzt
nicht in Tränen auszubrechen.
Nach einer Weile, als nichts passierte, sich nichts änderte, blickten die Kinder einander ratlos an, zuckten mit den Schultern
und gingen fort. Jonas hörte, wie sie ihre Räder aufhoben und davonfuhren.
Nur Asher und Fiona blieben.
»Was ist los, Jonas? Es war doch nur ein Spiel«, sagte Fiona beschwichtigend.
»Du hast alles verdorben«, sagte Asher erbost.
»Spielt es bitte nie wieder!«, sagte Jonas bittend.
» Ich
bin der zukünftige Assistent des Direktors für Spiel und Sport«, ließ Asher empört verlauten. »Spiele gehören nicht in
deinen
Zufälligkeitsbereich.«
»Zuständigkeitsbereich«, verbesserte Jonas ihn automatisch.
»Egal. Du kannst nicht bestimmen, was wir spielen, auch wenn du bald der neue Hüter der Erinnerungen bist.« Als ihm bewusst
wurde, mit wem er sprach, zuckte er zusammen. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich dir nicht den nötigen Respekt zukommen
ließ«, murmelte er betreten.
»Asher«, begann Jonas. Er versuchte, sich so genau wie möglich auszudrücken und seinem Freund so freundlich wie möglich zu
erklären, worum es ihm ging. »Ihr habt es nicht besser gewusst. Bis vor Kurzem habe ich es auch nicht gewusst. Aber es ist
ein grausames, schreckliches Spiel. In der Vergangenheit gab es …«
»Ich sagte bereits, dass ich mich entschuldige, Jonas.«
Jonas seufzte. Es nützte nichts. Natürlich konnte Asher ihn nicht verstehen. »Ich nehme deine Entschuldigung an, Asher«, sagte
er resigniert.
»Sollen wir ein Stück weit den Fluss hinunterradeln, Jonas?«, fragte Fiona, die sich nervös auf die Unterlippe biss.
Jonas sah sie an. Sie war so lieb. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er
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