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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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gesamte übrige Gemeinschaft hatte frei.
    Jonas stieß einen Freudenschrei aus und schob seine Schulmappe zur Seite. Er hatte gerade zur Schule gehen wollen. Der Unterricht
     war ihm mittlerweile weniger wichtig als früher und bald wäre seine offizielle Schulzeit sowieso zu Ende. Doch selbst die
     Zwölfer, die bereits mit ihrer Ausbildung begonnen hatten und an der Schwelle ins Erwachsenenleben standen, mussten noch endlose
     Listen mit Regeln auswendig lernen und wurden mit der neuesten Technologie vertraut gemacht.
    Jonas wünschte seinen Eltern, Lily und Eli einen schönen Tag, dann radelte er langsam die Wege entlang und hielt Ausschau
     nach Asher.
    Seit nunmehr vier Wochen nahm er die Pillen nicht mehr. Die Erregungszustände waren wiedergekommen und die Tatsache, dass
     er während des Schlafs wieder diese angenehmen Träume hatte, war ihm ein bisschen peinlich und löste Schuldgefühle in ihm
     aus. Aber es war ihm unmöglich, wieder in die Welt ohne Gefühle zurückzukehren, in der er so lange gelebt hatte.
    Seine neuen, intensiven Gefühle wirkten sich nicht nur auf seinen Schlaf aus. Jonas wusste, dass sie zum Teil durch das Aussetzen
     der morgendlichen Pille bedingt waren, aber auch wesentlich durch die Erinnerungen. Er konnte inzwischen alle Farben sehen
     – und sie auch festhalten, sodass die Bäume, das Gras und die Büsche für ihn jetzt immer grün waren. Gabriels rosige Wangen
     blieben rosafarben, auch wenn er schlief. Und Äpfel waren jetzt immer, immer rot.
    Seit er in den Erinnerungen Ozeane, Bergseen, Flüsse und Bäche gesehen hatte, die durch verträumte Wälder plätscherten, sah
     er auch den vertrauten breiten Fluss neben dem Radweg mit anderen Augen. Er sah das Licht, die Farbe und die Geschichte, die
     er in seinem gemächlich dahinfließenden Wasser mit sich trug; und er wusste, dass der Fluss aus
Anderswo
kommen und auch dorthin fließen musste.
    Über diesen unerwarteten, unplanmäßigen Ferientag freute er sich wie über jeden Ferientag und dieses Glücksgefühl ging tiefer
     als je zuvor. Als er – wie immer– darüber nachdachte, ob sein Sprachgebrauch auch wirklich präzise war, kam Jonas zu dem Schluss, dass seine Gefühle in der
     Tat eine Tiefe und ein Ausmaß erreicht hatten, die er nie zuvor verspürt hatte. Es war irgendwie eine ganz andere Art von
     Gefühlen als jene, die allabendlich in jedem Haus der Gemeinschaft von den Familienmitgliedern in endlosen Aussprachen diskutiert
     wurden.
    »Ich war sehr wütend heute Nachmittag, weil jemand auf dem Spielplatz sich nicht an die Regeln gehalten hat«, hatte Lily einst
     gesagt und mit ihrer kleinen Hand eine Faust geballt, um das Ausmaß ihrer Wut zu demonstrieren. Ihre Familie – einschließlich
     Jonas – hatte versucht, die möglichen Ursachen für das Fehlverhalten des kleinen Missetäters herauszufinden und ihr zu erklären,
     dass sie ihn verstehen und geduldig mit ihm sein müsse, bis Lilys kleine Faust sich wieder entspannte und ihre Wut verraucht
     war.
    Aber Lily hatte gar keine Wut verspürt, wie Jonas jetzt feststellte. Eine oberflächliche Ungeduld und Entrüstung, das ja.
     Davon war er überzeugt, denn er wusste inzwischen, was wahre Wut war. Durch die Erinnerungen hatte er Ungerechtigkeiten und
     Grausamkeiten kennengelernt, auf die er mit echter Wut reagiert hatte, die so heftig und ungestüm in ihm aufgewallt war, dass
     allein der Gedanke, dieses Gefühl in aller Seelenruhe beim Abendessen zu besprechen, völlig undenkbar war.
    »Ich war heute traurig«, hatte er seine Mutter einmal sagen hören und sie getröstet.
    Doch inzwischen wusste Jonas, was wirkliche Trauer war. Er hatte Qual und Pein kennengelernt und er wusste, dass jemand, der
     derartige Gefühle hatte, ganz bestimmt nicht auf die Schnelle zu trösten war.
    Diese Gefühle waren um so vieles tiefer und man musste auch nicht darüber sprechen. Man
empfand
sie einfach.
    »Asher!« Er entdeckte das Fahrrad des Freunds, das am Ende des Spielfelds an einen Baum gelehnt stand. Auch einige andere
     Räder lagen in der Nähe im Gras. An einem Feiertag durfte man die üblichen Vorschriften getrost missachten.
    Jonas’ Rad kam ins Schleudern, als er abrupt abbremste, und es gesellte sich wenig später zu den anderen am Boden. »Hey, Ash!«,
     rief Jonas, als er sich suchend umblickte. Das Spielfeld schien leer zu sein. »Wo bist du?«
    »Psssssch!«, ertönte eine Kinderstimme hinter einem nahen Busch. Wenig später hörte er: »Peng! Peng!

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