Hueter der Erinnerung
brannte, obwohl er sich innerlich vor Verlegenheit wand. Auf dem ganzen
Heimweg hatte er sich diese Worte zurechtgelegt.
»Liebt ihr mich?«
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Dann lachte Vater amüsiert auf. »Jonas. Ausgerechnet du! Präziser Sprachgebrauch,
wenn ich bitten darf!«
»Wie meinst du das?«, fragte Jonas. Mit Ironie vonseiten seines Vaters hatte er am wenigsten gerechnet.
»Dein Vater meint, dass du einen sehr allgemeinen Begriff verwendet hast, so bedeutungslos, dass er fast schon veraltet ist«,
erklärte seine Mutter nachsichtig.
Jonas starrte sie an. Bedeutungslos? Noch nie war ihm etwas so bedeutend vorgekommen wie das Gefühl, das diese Erinnerung
in ihm geweckt hatte.
»Und wie du weißt, kann eine Gemeinschaft nicht reibungslos funktionieren, wenn die Bürger nicht darauf achten, sich präzise
auszudrücken. Du könntest zum Beispiel fragen: ›Freut ihr euch, dass ihr mich habt?‹ Die Antwort wäre ›Ja‹«, erklärte Mutter
weiter.
»Oder«, meldete sich Vater, »du könntest fragen: ›Seid ihr stolz auf meine guten Schulleistungen?‹ Auch dann würden wir voller
Überzeugung ›Ja‹ sagen.«
»Verstehst du jetzt, warum es unpassend ist, ein Wort wie ›lieben‹ zu verwenden?«, fragte Mutter.
Jonas nickte. »Ja, danke, ich verstehe«, sagte er langsam und gedehnt.
Das war die erste Lüge seinen Eltern gegenüber.
»Gabriel?«, flüsterte Jonas in dieser Nacht dem Säugling zu.
Das Kinderbettchen stand wieder in seinem Zimmer. Nachdem Eli in Jonas’ Zimmer vier Nächte lang ruhig durchgeschlafen hatte,
erklärten seine Eltern den Versuch für gelungen und Jonas zum Helden. Gabriel wuchs zurzeit sehr rasch, kroch auf allen vieren
und zog sich mit Begeisterung hoch, wann immer er eine Möglichkeit fand. Sein fröhliches Krähen beim Abendessen und Baden
füllte die Räume. Im Säuglingszentrum durfte er eine Stufe höher rücken, seitdem er nachts durchschlief, hatte Vater voller
Stolz berichtet.
Im Dezember, also bereits in zwei Monaten, würde er offiziell einen Namen erhalten und einer Familie übergeben werden.
Doch als er die Nächte wieder im Säuglingszentrum verbringen sollte, schlief er nicht mehr durch, sondern weinte die ganze
Nacht.
Deshalb stand sein Bettchen jetzt wieder in Jonas’ Zimmer. Sie würden ihm noch etwas Zeit lassen, war beschlossen worden.
Da es ihm in Jonas’ Zimmer offenbar zu gefallen schien, durfte er dort noch ein paar Nächte zubringen, bis er sich endlich
ganz an das Durchschlafen gewöhnt haben würde. Was seine Zukunft betraf, so waren die Pfleger inzwischen recht optimistisch.
Auf Jonas’ leisen Ruf erfolgte keine Reaktion. Gabriel schlief tief und fest.
»Weißt du, Eli«, flüsterte Jonas, »alles könnte ganz anders sein. Ich weiß zwar nicht genau, wie, aber irgendwie muss es möglich
sein, die Dinge zu verändern. Es könnte Farben geben … und Großeltern.« Jonas starrte durch die Dunkelheit an die Decke seines Schlafzimmers. »Und jeder könnte Erinnerungen in
sich tragen. Du weißt ja, was Erinnerungen sind«, fügte er leise in Richtung des Kinderbettchens hinzu.
Gabriels Atem ging ruhig und gleichmäßig. Jonas genoss es, das Kind bei sich zu haben, obwohl er natürlich auch ein schlechtes
Gewissen hatte, weil er ihm so vieles erzählte. Jede Nacht übertrug er Gabriel Erinnerungen: Erinnerungen an Bootsfahrten
und Picknicke im Sonnenschein, Erinnerungen an sanfte Regentropfen, die an die Fenster klopften, Erinnerungen an ausgelassenes
Toben, barfuß auf taubedeckten Wiesen.
»Eli?«
Der Säugling bewegte sich leicht im Schlaf. Jonas blickte angestrengt hinüber.
»Es könnte auch Liebe geben«, flüsterte er.
Am nächsten Morgen nahm Jonas zum ersten Mal seine Pille nicht. Etwas in seinem Herzen, das während seiner Ausbildungszeit
dort gewachsen war, riet ihm, die Pille wegzuwerfen.
17
HEUTE IST EIN UNPLANMÄSSIGER FEIERTAG. Überrascht wandten Jonas, seine Eltern und Lily den Kopf zur Sprechanlage an der Wand, aus der diese Durchsage gekommen war.
Das kam sehr selten vor und war Anlass zu großer Freude in der ganzen Gemeinschaft. An solchen Tagen brauchten die Erwachsenen
nicht zur Arbeit zu gehen und die Kinder weder zur Schule noch zu den Praktikumsstunden oder zu ihrer Ausbildung. Ersatzarbeiter,
die an einem anderen Tag freibekamen, übernahmen alle anfallenden Arbeiten wie Füttern, Essensauslieferung und Pflege der
Alten und die
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